Landschaft Anden

„Buen Vivir“ – Ein Recht aufs gute Leben?

Wenn man sich im Politikstudium mit so „exotischen“ Themen wie dem „Buen Vivir“, indigenem Wissen oder sozialen Bewegungen in den Andenländern Südamerikas beschäftigt, bekommt man oft verwirrte Blicke zugeworfen. So auch beinahe jedes Mal, wenn ich erklärte, dass es in meiner Bachelorarbeit um indigene Justiz in Bolivien geht. Hä? Was ist eigentlich indigen? Was hat das mit Politik zu tun? Und warum interessiert dich das überhaupt?

Wenn ich dann ein bisschen weiter erzähle und von der aktuellen politischen Situation verschiedener Länder in Südamerika berichte, habe ich schließlich doch oft das Interesse meines Gegenübers geweckt. Bolivien, Ecuador, Peru – das sind schließlich Länder, bei denen man eher Lamas und Panflöten im Kopf hat als innovatische politische Ideen.

So kam mir der Einfall, doch auch einmal auf dem Blog über die Themen zu schreiben, mit denen ich mich im Studium und darüber hinaus beschäftige – natürlich etwas anders verpackt als in Hausarbeiten & Co. Den Anfang möchte ich mit diesem Artikel zum Thema „Buen Vivir“ machen. Später wird es dann wohl auch Artikel zu Themen wie indigenes Wissen oder indigene Justiz geben – vorausgesetzt, der Artikel kommt bei dir gut an – ich freu mich über einen positiven Kommentar, falls das der Fall sein sollte! 🙂

„Buen Vivir“ – Was ich damit zu tun habe

Vorab: Mein Blick auf diese Themen kann, da ich in Deutschland geboren bin, selbstverständlich nur eine Außenperspektive bleiben. Egal, wie viel ich mich mit der Kultur und der Lebensrealität indigener Völker befasse, ich bin und bleibe Außenseiterin, Beobachterin. Aber vielleicht liegt hierin auch eine gewisse Stärke – ich kann viele Konzepte nicht ganz erfassen, sie aber möglicherweise durch meinen Abstand kritischer hinterfragen.

Das Konzept des „Buen Vivir“ in Ecuador und Bolivien war mir bereits öfter begegnet, doch so wirklich beschäftigt habe ich mich erstmals damit im Rahmen eines Freiwilligen-Workshops zum Thema „Alternative Entwicklungskonzepte“. In meinem dritten Uni-Semester habe ich im Rahmen eines Seminars über politische Ökologie eine Hausarbeit darüber geschrieben, doch das Thema ließ mich immer noch nicht los. In meinem Praktikum bei der Heinrich-Böll-Stiftung habe ich schließlich eine Podiumsdiskussion mit über 100 Gästen zum Thema „Buen Vivir“ konzipiert und organisiert. Auf dem Podium saßen damals Thomas Fatheuer, der bereits viel zum Thema veröffentlicht hat, sowie Dr. Germán Muruchi Poma, Aymara-Indigener und Autor unter anderem einer Biographie des bolivianischen Präsidenten Evo Morales. Das alles erzähle ich dir hauptsächlich, um zu erklären, dass ich sicher keine absolute Expertin bin, aber doch schon ein bisschen Erfahrung mit dem Thema habe.

„Buen Vivir“ – Was ist das überhaupt?

„Buen Vivir“, das heißt übersetzt „gutes Leben“. Das „Buen Vivir“ ist ein Konzept ganz verschiedener indigener Völker (das heißt: Völker, die bereits vor der Kolonialisierung durch die Spanier dort gelebt haben) in Südamerika, das ein gutes Leben in Harmonie und Gleichgewicht beschreibt und permanenten Respekt vor jeder Form von Leben fordert. Unter der spanischen Begriffskonstruktion „Buen Vivir“ fasst man dabei die Vorstellungen und Werte verschiedener indigener Völker zusammen – deshalb ist das „Buen Vivir“ auch unter Begriffen wie sumaq kawsay (Begriff des Volkes der Kichwa in Ecuador), allin kawsay (Quechua in Peru/Bolivien) oder suma quamaña (Aymara in Peru/Bolivien) bekannt.

Während es dieses Konzept bereits seit Jahrhunderten gibt und es in den entsprechenden indigenen Dörfern und Gemeinschaften in unterschiedlichen Ausprägungen praktiziert wurde, kam das „Buen Vivir“ in den vergangenen Jahren ins Gespräch, weil es in Bolivien und Ecuador als eine Art alternatives Entwicklungskonzept Eingang in die Verfassung fand.

„Buen Vivir“ – Was kann man sich darunter vorstellen?

Was das „Buen Vivir“ über Harmonie und den Respekt des Lebens hinaus bedeutet, ist schwer zu fassen – verschiedene indigene Völker interpretieren es unterschiedlich, und da das indigene Denken in vielen Prinzipien ganz anders ist als das „westliche“, ist es für in Europa aufgewachsene Menschen ohnehin schwer greifbar.

Eine wichtige Vorüberlegung ist, dass sich das „Buen Vivir“, wie das indigene Denken insgesamt, als holistisch beschreiben lässt. Das heißt, dass man die Welt im indigenen Denken als Ganzes betrachten muss und nicht als Summe ihrer Teile: Man kann nicht „Mensch“ und „Natur“ oder „Mensch“ und „Frau“ oder „Individuum“ und „Gemeinschaft“ denken – das eine kann nicht ohne das andere existieren, alles ist mit einander verbunden.

Street Art in Lima

Kritische Straßenkunst im Centro von Lima, Peru

In seinem Vortrag bei besagter Podiumsdiskussion hat Dr. Muruchi Poma vier Prinzipien der Aymara-Vorstellung von „Buen Vivir“ benannt: Zum einen das Prinzip der Pluralität, das beschreibt, dass das Vorhandensein von Unterschieden das Leben überhaupt erst ermöglicht. So sind nicht nur Mann und Frau, sondern auch die 36 Völker Boliviens sowie andere Minderheiten gleichwertig. Doch nicht nur in Bezug auf die Gemeinschaft greift das Konzept der Pluralität, auch für die Beziehung zwischen Menschen und Natur ist es von Bedeutung: Wir Menschen stecken nicht nur inmitten der Natur, sondern sind selbst Naturphänomene – und damit Teil der Biodiversität. Das zweite Prinzip nennt sich auf der Sprache der Aymara ayni und beschreibt die Gegenseitigkeit. Das harmonische Leben besteht immer aus „bekommen“ und „geben“ gleichermaßen. Dieses Prinzip kann man ganz praktisch in indigenen Gemeinschaften oder auch in den Städten Lateinamerikas erleben: Die Menschen helfen sich mit zinslosen Darlehen oder Geldgeschenken gegenseitig. So wird beispielsweise der Hausbau einer Familie finanziert.

Das dritte Konzept ist das des pachakuti, der Wiederholung in Zeit und Raum. Dieses symbolisiert das zyklische Weltbild, das die Aymara und auch andere indigene Völker haben: Es gibt keine Zukunft ohne die Wiederholbarkeit der Vergangenheit, die Vergangenheit ist für das Heute von großer Bedeutung. Man denke beispielsweise an den Ackerbau – wenn ich letztes Jahr keine Samen ausgesät habe, kann ich dieses Jahr nicht ernten. Das vierte Prinzip ist das der Rotation. Auch dieses ist aus der Beobachtung der Natur abgeleitet – dort wächst jedes Jahr wieder aufs Neue etwas, das neue Leben löst das alte ab. In der politischen Organisation indigener Völker wird dieses Prinzip seit jeher umgesetzt: Wichtige Posten werden normalerweise jedes Jahr oder alle zwei Jahre von jemand anderem aus der Dorfgemeinschaft besetzt.

Was bedeuten diese vier Prinzipien nun für das „Buen Vivir“ in politischer Hinsicht, für das „Buen Vivir“ als Teil der Verfassung eines modernen Staates? Im Rahmen der Pluralität sollen alle Menschen als Teil ihres Volkes Möglichkeiten bekommen, ihre Identität auszuleben. In Bezug auf das Konzept des ayni muss das Handeln der Menschen durch nehmen und geben gekennzeichnet sein, und Ärmere müssen Unterstützung erhalten. Das pachakuti schreibt vor, dass sowohl das gesellschaftliche Leben als auch das Zusammenleben der Natur wirklich nachhaltig sein müssen. Und das Rotationsprinzip besagt, dass nicht einer ständig an der Macht sein darf, sondern dass beispielsweise der Präsident in regelmäßigen Abständen wechseln muss.

„Buen Vivir“ als Teil der bolivianischen und ecuadorianischen Verfassung

Wie kam nun also ein solches Konzept in die Verfassung zweier lateinamerikanischer Staaten? Dazu ein wenig Vorgeschichte: Nachdem in Lateinamerika in den 1990er Jahren neoliberale Regierungen vorherrschten, die ihr Land anhand der Vorgaben der Weltwirtschaft gestalteten und mit den USA kooperierten, kam es in den 2000er Jahren in vielen Teilen des Kontinents zu einem Mentalitätswandel. Der Neoliberalismus hatte oft nicht zu einer Verbesserung, sondern eher zu einer starken Abhängigkeit von außen geführt und das Leben für die Armen noch schwieriger gemacht. Noch dazu fanden indigene Völker, obwohl sie in Ländern wie Bolivien sogar die Mehrheit darstellten, noch immer keine Berücksichtigung in der Politik: Machtpositionen hatten noch immer hauptsächlich weiße, von den Spaniern abstammende Eliten inne, und anstatt mit den Indigenen wurde immer noch über sie entschieden – oft zu ihrem Nachteil.

Indigene Organisationen, Gewerkschaften und Bauernorganisationen formierten sich, protestierten, gründeten Parteien und hatten Erfolg: 2005 wurde in Bolivien der Aymara-Indigene und Kokabauer Evo Morales mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt, 2006 in Ecuador der linksnationalistische Wirtschaftswissenschaftler Rafael Correa. Besonders nach dem erdrutschartigen Wahlsieg Morales‘ war schnell deutlich, dass Bolivien so schnell nicht mehr sein würde wie vorher: Neben der offiziellen Amtseinführung hielt er ein indigenes Amtseinführungsritual ab, auch auf internationaler Bühne trat „Evo“ nie im Anzug, sondern immer im Alpaka-Pullover auf und rhetorisch forderte er die „Dekolonialisierung“ und sogar die „Neugründung“ Boliviens.

In Lateinamerika ist es recht üblich, bei einem Regierungswechsel auch eine neue Verfassung zu erarbeiten. In Bolivien wurde diese 2007, in Ecuador 2008 veröffentlicht. In beiden fand sich Bezug aufs „Buen Vivir“: In Bolivien wurde dieses Konzept kurzerhand zum Staatsziel erklärt, in Ecuador legte man bestimmte Rechte fest, die Teil eines guten Lebens sein sollten.

Was macht das „Buen Vivir“ jetzt so besonders?

Dass das „Buen Vivir“ Eingang in die beiden Verfassungen gefunden hat, ist auf zwei Ebenen revolutionär: Zum einen, weil ein indigenes Konzept zum Staatsziel wurde, zum anderen, weil ein Konzept, das auf Harmonie und Gegenseitigkeit auch zwischen Mensch und Natur beruht, natürlich heftige Konsequenzen für einen modernen Staat besitzt.

Man mag sich vielleicht fragen, warum es eine Revolution sein soll, dass in einem mehrheitlich indigenen Staat wie Bolivien eine indigene Idee zum Staatsziel wurde. Klingt ja eigentlich logisch, oder? Doch mit dem Beginn der Kolonialzeit wurden indigene Völker, ihr Wissen und ihre Ideen konsequent abgelehnt und für „primitiv“ und unmodern erklärt. Dieser Rassismus half bei der Eroberung des Kontinents: Indigene waren primitiv, daher musste man ihnen Erziehung und Religion bringen, um ihnen zu helfen. Und auch, wenn heute indigene Menschen die gleichen Rechte genießen wie weiße und es diese Einstellung natürlich in den Gesetzen nicht mehr gibt, hat sie sich in den Köpfen gehalten.

Cusco

Straßenszene in Cusco, Peru

Falls du schon einmal in Lateinamerika warst, weißt du vielleicht, dass die Länder dort ein großes Rassismus-Problem haben: Viele Weiße und hellere „Mestizen“, also Menschen mit sowohl indigenen als auch weißen Vorfahren, gucken auf die dunkelhäutigeren und indigenen Menschen herunter. Viele Menschen auf der Stadt halten die Menschen auf dem Land grundsätzlich für unterbelichtete Bauern. In der Politik wurde die Andersartigkeit der Indigenen immer als Hindernis gesehen, das es zu überwinden galt – am besten sollten sie sich so gut wie möglich den Weißen anpassen. Und dass indigenes Wissen irgendeinen Wert über Medizinpflanzen hinaus haben könnte, das wurde eher bezweifelt.

So wäre es vor fünfzig oder gar zwanzig Jahren noch völlig undenkbar gewesen, dass ein indigenes Konzept Teil einer Verfassung sein würde. Heute ist das passiert – und es stellt natürlich schon allein auf symbolischer Ebene einen riesigen Schritt zur Anerkennung der indigenen Völker und der Bedeutung ihres geistigen Erbes dar.

Der zweite „revolutionäre“ Fakt des Buen Vivir ist nun, dass es völlig mit den bisher vorherrschenden Vorstellungen von Entwicklung brach. In den neoliberalen 90er Jahren hatte die Modernisierungstheorie noch großen Anklang gefunden, also die Idee, dass sich „unterentwickelte“ Staaten wie Ecuador und Bolivien möglichst dem Vorbild der westlichen Staaten anpassen sollten, um sich zu entwickeln. Im Rahmen dieses Denkens wurde Entwicklung als hauptsächlich wirtschaftlich wahrgenommen – ein guter, entwickelter Staat ist einer, der eine starke Wirtschaft hat und in dem die Menschen reicher und reicher werden. Das „Buen Vivir“ jedoch zeigt, dass sich Ecuador und Bolivien eben nicht an westlichen Staaten orientieren möchten, sondern auf ihr eigenes, präkoloniales, indigenes Erbe zurückgreifen, um die Lebenssituation ihrer Einwohner zu verbessern. Außerdem wird durch eine nähere Betrachtung des „Buen Vivir“ deutlich, dass es hier nicht allein darum geht, möglichst viel Reichtum anzuhäufen. Stattdessen soll in diesem Konzept durch Gegenseitigkeit, Harmonie und Rücksichtnahme jede und jeder die Möglichkeit bekommen, sich zu entfalten und ein gutes Leben zu führen.

Wir müssen Schluss machen mit dem Konsumismus, der Verschwendung und dem Luxus. Im ärmeren Teil des Planeten verhungern jedes Jahr Millionen Menschen; gleichzeitig werden im reicheren Teil des Planeten Millionen Dollar ausgegeben, um die Fettleibigkeit zu bekämpfen. Wir verbrauchen im Exzess, wir vergeuden Naturressourcen und produzieren Müll, der die Mutter Erde vergiftet. Verbrauchen, was notwendig ist, und dem Verbrauch dessen, was wir lokal produzieren, den Vorrang geben, das ist von erstrangiger Bedeutung, um den Planeten, die Menschheit und das Leben zu retten. Evo Morales Ayma, Präsident Boliviens

Außerdem waren die bisherigen Politiken in Bolivien und Ecuador nicht gerade zimperlich zur Natur. Gerade Bolivien ist sozusagen der Inbegriff des lateinamerikanischen Extraktivismus, also der Ausbeutung der Bodenschätze. Erdgas, Öl, Silber, Gold – besonders ausländische Unternehmen bereicherten sich an den Bodenschätzen, die ohne Rücksicht auf die Natur oder die indigenen Völker abgebaut wurden. Während gerade der Abbau von Rohstoffen damals noch als Weg zur Entwicklung des Landes angesehen wurde, soll heute darauf verzichtet werden: Das „Buen Vivir“ fordert den Respekt vor der Natur und eine wirkliche Nachhaltigkeit.

Ist das nun alles wirklich so toll wie es klingt?

Wie so viele Fragen lässt sich auch diese leider nur mit einem „Jein“ beantworten. Zunächst einmal ist es ein großartiger symbolischer Schritt, dass Länder Südamerikas sich auf ihre indigenen Wurzeln berufen, anstatt diese abzulehnen, und daraus sogar politische Handlungsmaximen ableiten.

Doch ob das Konzept des „Buen Vivir“, so wie es in die Verfassungen der Länder Eingang gefunden hat, wirklich indigen ist, darüber lässt sich streiten. Vor allem in Ecuador scheint sich das in der Verfassung verankerte Konzept nicht unbedingt auf indigenes Wissen und Denken zu berufen, sondern vielmehr auf ein westliches Verständnis davon. Verschiedene Wissenschaftler haben dabei angemerkt, dass die Art und Weise, wie das „Buen Vivir“ in der Verfassung verankert ist, eher an antike westliche Konzeptionen (wie beispielsweise das Glück und das gute Leben bei Aristoteles) erinnert als an indigene Vorstellungen.

Bembos Cusco

Indigener Stolz: Bembos wirbt in Cusco auf Quechua.

Denkt man an die holistische Denkweise und daran, wie schwierig es ist, das „Buen Vivir“ jemandem zu erklären, der kein Indigener ist, kann man auch die grundsätzliche Frage stellen, ob es möglich ist, ein solches Konzept in einem modernen Staat umzusetzen. Denn auch in Bolivien und Ecuador ist ein großer Teil der Bevölkerung (und durch zum Beispiel Verstäderungsprozesse werden es immer mehr) sozusagen westlich (oder mit westlichen und indigenen Elementen) sozialisiert worden, denkt in Ideen wie dem Individuum, spricht Spanisch, benutzt Geld und hat von Konzepten wie dem ayni entweder keine Ahnung oder eine ganz eigene Interpretation, die sich vom „ursprünglichen“ indigenen Denken unterscheiden mag. Gerade die Tatsache, dass indigenes Denken und damit auch das „Buen Vivir“ holistisch, also ganzheitlich ist, stellt die Umsetzung vor große Probleme: Wie setzt man ein auf Gemeinschaft bezogenes Konzept in einem modernen Staat, der das Individuum achtet, um? Wie kann man ein indigenes Konzept so ausgestalten, dass es auch für nicht Indigene oder andere indigene Gruppen mit anderen Interpretationen trag- und verstehbar ist?

Auch die reale Politik in beiden Ländern macht klar, dass nicht alles Gold ist, was glänzt: Viele Gesetze, Entwicklungspläne und Projekte, die nach den entsprechenden Verfassungen veröffentlicht wurden, schienen das „Buen Vivir“ komplett vergessen zu haben. Dr. Muruchi Poma merkte bei der Podiumsdiskussion zum Beispiel an, dass sich die bolivianische Regierung momentan stark auf den Abbau von Lithium konzentriert, als den Extraktivismus fortsetzt, auch wenn er eigentlich der im „Buen Vivir“ festgelegten Achtung vor der Natur widerspricht. Thomas Fatheuer erklärte die in Bolivien und Ecuador präsente Idee des „Neo-Extraktivismus“, die an sich paradox wirkt: Die Ausbeutung der Natur wird gerechtfertigt, um Geld für die Erfüllung der Ziele des „Buen Vivir“ zur Verfügung zu haben und in Zukunft eben keine Rohstoffe mehr abbauen zu müssen.

Dennoch: Die Möglichkeiten des „Buen Vivir“

Das Buen Vivir als Konzept des interkulturellen Austauschs ließe sich so einerseits als Fortsetzung des Konflikts zwischen herrschenden Weißen und beherrschten Indigenen beschreiben. Obwohl die Indigenen für eine Durchsetzung ihres Konzeptes gekämpft haben, konnten sie es nur auf abgeschwächte Art und Weise durchsetzen. Andererseits könnte man das Buen Vivir auch als einen lange vernachlässigten und endlich gestarteten interkulturellen Dialog begreifen, der die durch Rassismus und Misstrauen begründete Trennung zwischen Weißen und Indigenen beendet und sich immer noch im Prozess befindet. Schließlich ist der Verfassungseingang, und eigentlich schon allein die Diskussion, eines solchen Konzeptes, ein historischer Augenblick für beide Staaten. Zum ersten Mal wird, um ein Problem zu lösen, versucht, auf historische indigene Wurzeln zurückzublicken.

… habe ich damals im Fazit meiner Hausarbeit geschrieben. Gerade in der Schwierigkeit der Interpretation und Ausführung eines indigenen Konzeptes liegt meiner Meinung nach die Möglichkeit eines interkulturellen Dialogs: Man muss das „Buen Vivir“ einer interkulturellen Übersetzung unterziehen, um es zu verstehen, und dies allein kann für Bolivien und Ecuador sehr fruchtbar sein.

Interessant ist auch, dass das „Buen Vivir“ in den letzten Jahren oft von europäischen oder nordamerikanischen Umweltgruppen und anderen Initiativen aufgegriffen wurde. Das ist zwar immer mit Vorsicht zu genießen, denn weder die realen Politiken in Lateinamerika noch das Weltbild der indigenen Völker sollte unhinterfragt idealisiert werden. Außerdem darf man, wie ich hoffentlich zeigen konnte, die Komplexität des „Buen Vivir“ und seine tiefe Verankerung im holistischen indigenen Denken nicht unterschätzen – für Europa oder Nordamerika kann das „Buen Vivir“ kein unmittelbarer Ausgangspunkt sein!

Aber dennoch ist es großartig, dass lateinamerikanische Länder mit solch guten, innovativen Ideen bei uns in den Nachrichten sind. Das kann das Bild auf Lateinamerika verändern – von Panflöten und Lamas zu spannenden politischen Entwicklungen, von „primitiven Ureinwohnern“ hin zu einer realistischeren Betrachtung indigener Gemeinschaften als treibende politische Kraft. Wer sich ein bisschen mit dem „Buen Vivir“ befasst, der kann nicht mehr leugnen, dass auch indigene Völker fähig sind zur kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und dem politischen System, in dem sie leben. Außerdem kann das „Buen Vivir“ zeigen, dass wir uns in den Themen, mit denen wir uns beschäftigen, gar nicht so sehr von den Menschen in Lateinamerika unterscheiden: In Deutschland und Europa wird über alternative Zukunftskonzepte, Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Postwachstumsgesellschaften diskutiert, und das selbe passiert in Lateinamerika, nur eben mit Rückgriff auf andere Konzepte.

Uff – das war ein langer Text. Hast du mir folgen können? Hattest du vorher schon einmal vom „Buen Vivir“ gehört? Und am meisten interessiert mich natürlich: Hat dich der Artikel interessiert und würdest du dir mehr von dieser Sorte wünschen? Ich freu mich riesig auf deinen Kommentar!
Diesen Text habe ich übrigens geschrieben, nachdem ich auf Facebook gefragt habe, ob jemand Interesse an solchen Themen hätte. Dort starte ich immer mal wieder solche kleinen Umfragen – falls du darüber mitbestimmen möchtest, was es auf heldenwetter zu lesen gibt, folge mir doch dort!

Wer sich für das Thema interessiert und mehr darüber lesen möchte, kann sich mal in diesem Text von Thomas Fatheuer, in diesem Artikel von Germán Muruchi Poma oder in diesem Text von Eduardo Gudynas umsehen. Gudynas erklärt auch in einem Interview sehr schön, warum das „Buen Vivir“ nicht das Gleiche ist wie europäische Nachhaltigkeitsideen.

24 Gedanken zu “„Buen Vivir“ – Ein Recht aufs gute Leben?”

  1. Ich muss dir jetzt wirklich mal ein super großes Kompliment machen! In letzter Zeit bin ich in der Bloggerwelt nicht mehr ganz so aktiv, da ich viele Posts zu belanglos finde und man sich irgendwann „satt“ gelesen hat an DIY und Rezepteposts. Deswegen habe ich mich wahnsinnig über diesen Artikel gefreut. Ich kannte das Konzept noch gar nicht, aber find das Thema und Idee super interessant. Werd mich da auf jeden Fall ein bisschen reinlesen 🙂
    Und schreib gerne öfter solche Posts – gefällt mir sehr gut 🙂

  2. Toller Post, da steckte bestimmt eine ganze Menge Arbeit dahinter! Ich habe noch nie von „Buen Vivir“ gehört und finde, du hast das Thema super für uns Leser aufbereitet , sodass man sich auch ohne Vorwissen nun seine eigene Meinung bilden kann. Danke dafür, meinen Horizont nicht zum ersten Mal erweitert zu haben! Liebe Grüße 🙂

    1. Vielen Dank! Ach, ich konnte den Post jetzt so runterschreiben und musste fast nichts mehr recherchieren, weil ich im Thema ja schon drinstecke – daher war das gar nicht mehr viel Arbeit 🙂

  3. Du hast dir ja richtig viel Arbeit gemacht, toller Artikel! Ich hab noch nie von diesem Konzept gehört und fand es super spannend. Mach unbedingt mehr solche Artikel!

    1. Danke! Ich stecke im Thema schon ganz schön drin, daher wars nicht mehr so viel Arbeit 🙂 Freut mich, dass der Artikel gut ankommt!

  4. Am Ende des Textes angelangt möchte ich nun auch deine Fragen beantworten.
    Ich konnte dir folgen und mir hat es Spaß gemacht den Text zu lesen. Spaß, weil ich begeistert bin, wie du ein so interessantes und für mich neues Thema rüberbringst. Von „Buen Visier“ direkt habe ich noch nichts gehört. Klar kamen mir einige wenige Aspekte etwas bekannt vor, aufgrund von Indianerbüchern, die mir meine Mama vorlas als ich etwas kleiner war. Aber so genau, wie du darüber berichtest, habe ich noch nichts darüber gewusst. Doch du hast mein Interesse geweckt und ich würde mich über mehr solcher Artikel freuen, nicht nur weil ich, wie schon erwähnt, Ende des Jahres eventuell nach Peru gehe.

  5. Hallo Ariane,
    ein wirklich spannender Artikel!
    Ich habe vorher noch nie vom „Buen Vivir“ gehört und danke dir für die ganzen Infos. Sehr interessant finde ich auch das Zitat von Evo Morales Ayma. Ich freue mich schon auf weitere Berichte von dir zu diesem Thema.
    Lieben Gruß
    Elisa

  6. Liebe Ariane, ja der Text ist nicht für schnell zwischendurch – aber ehrlich gesagt bin ich froh, dass es noch Blogs gibt, die auf einen guten Tecxt setzen – und die passenden Leser dazu. Ich habe bisher noch nichts von buen vivir gehört und finde es sehr interessant mehr über indigene Denkweisen zu erfahren, die nicht romantisiert sind oder esoterisch. Mit dem Wissen, dass du dirch durch deine Haus- und Abschlussarbeiten angeeignet hast, wird dein bevorstehender Trip nach Südamerika bestimmt noch interessanter. Liebe Grüße!

    1. Vielen Dank! Es freut mich sehr, dass dieses Thema auch Leute interessiert, die bis jetzt noch nichts davon gehört hatten 🙂 Ich freu mich auch schon riesig, herauszufinden, ob mir Themen wie das „Buen Vivir“ in Ecuador begegnen werden…

  7. Liebe Ariane, ich folge deinem Blog scon ein paar Jahre, hab aber glaube ich noch nie einen Kommentar hinterlassen. Glückwunsch zu Deinem tollen Artikel, der mich bis zum ende gefesselt hat und vom dem ich mich sehr bereichert fühle. Ich hoffe, du kannst ihn für deine Arbeit nutzen, weil er so anschaulich informiert und interessiert!
    Liebe Grüße aus köln,

    Ulla Fricke,
    Don Bosco Mission

  8. Von „Buen Vivir“ hatte ich bis jetzt noch nichts gehört. Allerdings finde ich das Thema sehr interessant und finde es klasse, dass du so etwas hier aufgreifst. Es ist schön in der Blogger-Welt mal wieder von etwas ganz anderem zu lesen. Ich würde mich über weitere Artikel dieser Art auf jeden Fall freuen, denn ich lerne gerne dazu und kenne mich in dem Themengebiet „Südamerika“ sowieso kaum aus.

    Liebe Grüßen,
    Anneke ♥

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