Ich gebe es zu: Ich bin ein Schisser. Nervosität ist gerne mein Begleiter, die eine oder andere Neurose reist immer im Rucksack mit. Auf Adrenalinkicks kann ich gerne verzichten, bei Horrorfilmen muss das Licht unbedingt an bleiben und vor dem Schlafengehen gucke ich dann noch dreimal in den Schrank, nur um sicher zu gehen. Die Angst ist einer der Gründe, warum ich als Reisebloggerin wohl ziemlich ungeeignet bin – und zugleich einer, der mich immer wieder losziehen lässt. Denn das Gefühl, etwas geschafft zu haben, sich seinen Ängsten gestellt zu haben – das ist einfach unbezahlbar. In den paar Tagen, die ich über Silvester in Polen und der Slowakei unterwegs war, schwebte ich ständig zwischen Panik, Adrenalin und Glücksgefühlen – ganz ungeplanterweise wurde die kurze Reise zur Therapiestunde für mich.
An Silvester nach Polen? Misstrauisch überlege ich, als ich ins Auto steige, wer eigentlich auf die dämliche Idee gekommen ist. Ich, glaube ich. Verdammt. Nachrichtenschlagzeilen von abgerissenen Fingern kommen mir in den Sinn, vor meinem inneren Auge werfen Jugendliche gröhlend mit dicken roten Böllern nach mir. Silvester finde ich schon in Deutschland schrecklich. Ich mag Feuerwerk, aber ich mag es auch sicher, leise und sauber, und Silvesternächte sind für gewöhnlich nichts davon. Stattdessen bilden sonst friedliche Mitmenschen pyromanische Züge aus, starten Raketen am Boden und machen sich einen Spaß daraus, sich gegenseitig mit Dingen abzuwerfen, die brennen. Wäre es nicht so einsam und traurig, ich würde an Silvester um Mitternacht ganz einfach zu Hause bleiben, in der sicheren Wohnung, und aus Vorsicht nochmal kontrollieren, ob alle Fenster geschlossen sind. Doch dieses Jahr geht es nicht nur in die Innenstadt, sondern auch noch in eine polnische, und da hat alles, was brennt, vermutlich ein anderes Kaliber.
Wir fahren durch polnische und slowakische Dörfer, jedes „Fajerwerki“-Schild an ominösen Ständen entlang der Landstraße dreht mir den Magen um. Mein Freund, der mich zu dieser Zeit des Jahres liebevoll „Silvester-Grinch“ nennt, lacht nur, er hat selbst die Feuerwerks-Überreste des letzten Jahres im Rucksack. Vor Silvester wandern wir durch die Hohe Tatra und ärgern uns darüber, dass durch den wenigen Schnee viele Aktivitäten geschlossen sind. Eine Sache ist jedoch auch auf dem Halb-Eis-halb-Gras-Untergrund möglich: Schneemobil fahren.
Ein erstes Stadium meiner Angst ist die konsequente Ablehnung: „Ich geh da nicht rein“, sage ich, oder „Ich steig da nicht rauf!“, normalerweise gefolgt von einem Vortrag darüber, dass ich ja nicht aus Angst verzichte, sondern einfach, weil ich es aus völlig rationalen Gründen nicht für sonderlich sinnvoll halte. Und so ist es auch hier. „Ich steig nicht auf so ein Ding“, sage ich, und füge mit Blick auf meinen Freund, der seinen kleinen Skoda auf vielen Strecken mit einem Sportwagen verwechselt, hinzu: „Und vor allem nicht, wenn du fährst.“
Doch es kommt, wie es kommen musste, ich sitze auf der klapprigen Kiste mit dem großen Motor und kralle mich an seiner Jacke fest. Mit jeder Runde, die wir übers Eis brettern, auf den Geraden Vollgas, kurz vor der Kurve scharf abgebremst, vermischt sich mein Kreischen mehr mit Lachen, die Angst lässt mich zwar bis zum Ende nicht ganz los, aber vielleicht ist das auch gewissermaßen gesunder Menschenverstand. Am Ende muss ich tatsächlich zugeben, dass mir das Ganze Spaß gemacht hat. Später geht es noch (wie es sich für einen Winterurlaub ohne Schnee gehört) auf die Sommerrodelbahn, hier kann ich meine Geschwindigkeit selbst bestimmen und fahre so langsam, dass ich anfange, über die Höhe und die uralte Konstruktion nachzudenken. Nicht gut. Je schneller ich fahre, desto mehr lässt mich die Angst aus ihren Klauen, eigentlich paradox, ist das etwas das, was man Leichtsinn nennt?
In Krakau haben wir im Vorfeld zwanzig Minuten Angst in der Lost Souls Alley gebucht, einer Art Mischung aus Escape Game und Geisterbahn. Schon die Website stellt mir die Nackenhaare auf, doch als ich die Kommentare auf Tripadvisor lese, überlege ich ernsthaft, hier zu streiken. „The most terrifying experience in my life“, „I had to sleep with my lights on for the rest of the holidays“, will ich das wirklich? Muss ich mir das antun, zwanzig Minuten Panik? Wofür ist das gut? Allein der Eingang zum Spektakel wirkt wie aus einem Horrorfilm: Ein gruseliges Gesicht ist in rot an eine Wand gesprüht, über eine knarzende Treppe läuft man durchs Halbdunkel. Oben werden wir beide mit einer anderen Gruppe zusammengelegt, gleich geht es los. Die vier, die sich mit uns durch den Live-Horrorfilm schlagen werde, sind gesprächige Rumänen, zwei Männer, zwei Frauen. Ich packe die drei Worte Rumänisch aus, die ich kenne, da alle vier bei Continental arbeiten, kennen sie meine Heimatstadt Regensburg, die Stimmung ist gut. Dann bekommen wir erklärt, wie das Ganze abläuft: Pro Gruppe gibt es nur eine Taschenlampe, und die ist auch noch abgedunkelt. In den Räumen ist es stockfinster, es geht immer darum, einen Code oder einen Schlüssel zu finden, um die Tür zum jeweils nächsten Raum zu öffnen. Erschreckend ist nicht nur das Ambiente, sondern auch die Anwesenheit von Schauspielern. „They may touch you, but they are not gonna hurt you!“, na, sehr beruhigend.
Los geht’s, die beiden männlichen Rumänen nehmen das metaphorische Zepter und die reale Taschenlampe in die Hand. „Das wären die Leute, die bei einem Horrorfilm als erstes draufgehen würden“, raunt mir mein Freund zu und ich muss jetzt schon lachen. Die „Rätsel“ in den einzelnen Räumen sind schnell gelöst, mal kleben Augäpfel an der Wand, die in Richtung des Schlüssels zeigen, mal ist ein Code auf einem Fernseher zu sehen. Um das Dekor der Räume vernünftig zu beschreiben, müsste ich ein neues Wort erfinden, „erschreckend“ trifft es nicht annähernd. Jeder Raum hat ein anderes Motto, einer ist nach dem Film „The Ring“ eingerichtet, einer sieht aus wie ein Schlachthof. Bei jedem Detail gefriert einem das Blut in den Adern. Plötzlich geht eine Tür auf, ein Geräusch lässt alle gleichzeitig aufzucken, alle drehen sich um, warten auf das befreiende Licht der Taschenlampe, uff, nichts… Dann plötzlich: Einer der Schauspieler, verkleidet als beliebiger Schreckenscharakter, stürmt aus dem Nichts, und es geht nur noch darum, kreischend den Schlüssel im Schloss zu drehen und sich in den nächsten Raum zu retten.
Eine der beiden Frauen, die dabei sind, hat schon nach dem ersten Raum genug und lässt sich herausholen, das mag auch daran liegen, dass die beiden Kerle das Ganze wohl scheinbar noch nicht gruselig genug finden und sich einen Spaß daraus machen, sie zusätzlich zu erschrecken. Die andere Frau klammert sich so fest an mich, dass ich mich kaum noch bewegen kann, wir alle laufen in einer langen Kette Hand in Hand, einerseits ist das schön, andererseits beengend, nie kann ich dahin laufen, wo ich will, oder mich dahin drehen, wo ich möchte, ich bin darauf angewiesen, dass wir alle gemeinsam losrennen. Hinterher habe ich Kratzer an der Hand und kaputte Schuhe, wir müssen uns dort drin verhalten haben wie die Wahnsinnigen.
Rückblickend habe ich auch hier mehr gelacht als geschrien, und das Licht kann in der Nacht ruhig ausgeschaltet bleiben. Der bloße Schreckeffekt kann mir zumindest perspektivisch nicht so viel, gruseliger hätte ich es gefunden, wenn auch ein bisschen mit der Psyche gespielt worden wäre: Kniffligere Rätsel, bei denen man sich wirklich konzentrieren muss – und dabei der Schockmoment kommt, wiederkehrende Melodien und Bilder… Als ich darüber nachdenke, erkläre ich mich selbst für verrückt: Denke ich wirklich darüber nach, wie man das Ganze noch gruseliger hätte gestalten können?!
Als wir wieder auf der Straße stehen, stehen alle Zeichen auf Silvester, es sind nur noch wenige Stunden bis Mitternacht und die Innenstadt füllt sich. Darauf, uns hier mit tausenden Leuten auf den Marktplatz zu quetschen, haben wir jedoch weniger Lust, und beschließen, uns um Mitternacht ein Fleckchen am Fluss mit Blick auf die Burg zu reservieren. Schwer ist das nicht, hier ist kaum jemand unterwegs, und Feuerwerk sieht man fast gar keines. Meine Ängste waren völlig unbegründet, die berüchtigten Polenböller werden entweder nur nach Deutschland verkauft oder sind ein unbegründetes Klischee. Fast schade, dass man kaum Raketen beobachten kann, auch Feuerwerk-Fotos sind hier eine ziemlich erfolglose Mission. Gefühlt am meisten Feuerwerkskracher schießt heute mein Freund ab, skeptisch und auf Abstand beäugt von mir und den vorbeilaufenden Krakauern. So bleibt mir wenigstens eine nicht-therapierte Angst, und mit einem Vorurteil weniger darf ich auch nach Hause fahren. Sieht man mal wieder: Man muss eben doch vieles mal selbst ausprobiert haben, Ängste hin oder her.
Städtereisen-Tipps für Krakau gibt es übrigens bei Reiseaufnahmen und Go Girl Run, und auf Teilzeitreisender kannst du eine kleine Zeitreise miterleben. Viel Spaß!
Wow, was für ein inspirierender Artikel! Du beeindruckst mich wirklich immer wieder 🙂
Ich muss wohl wirklich mehr reisen. Also hast du mein Vorhaben, im Sommer alleine weg zu fahren, noch ein Mal bestärkt 😉
Liebe Grüße
Danke, das freut mich 🙂 Cool! Weißt du schon, wohin?
Ich hab jetzt auch schon einiges über diese Escape Rooms gehört und gerade in der Gruselvariante würde es mich gar nicht reizen. Ich mag auch keine Horrorfilme… Neee, nichts für mich! Aber schön, dass es doch irgendwie lehrreich für dich war. Und gut, dass du doch nicht in einem Böller-Hagel Silvester feiern musstest. Ich dachte auch, da würde es mehr abgehen als hier schon. Umso besser, dass es nicht so war!
Haha 😀 Das kann ich gut verstehen! Alleine bzw. ohne meinen Freund wäre ich auch nie auf die Idee gekommen, so etwas zu machen. Und über das ruhige Silvester habe ich mich riesig gefreut – nächstes Mal ziehe ich es dann endlich „richtig“ durch und fahre über Silvester auf eine einsame Berghütte oder in ein Land mit anderer Zeitrechnung 😉