Grün wogende Hügel, blau glitzerndes Wasser, riesige Felsbrocken, ferne Burgen und Schlösser, mit Efeu bewachsene Schiefermauern, bunte Fischerboote – noch kein Land vorher schien mir derart Kulisse eines Märchens zu sein wie Wales. Vielleicht mag es an unserer spontanen Art zu reisen liegen, an der Einfachheit, die einen zurückversetzt in die Zeit des Wunderns und Staunens, vielleicht spielen auch die Ortsnamen eine Rolle, kaum aussprechbar und umso mystischer, vielleicht haben mich die vielen lokalen Sagen inspiriert, die zu den Landschaften kursieren. Eins weiß ich sicher: Wales wird in meinem Kopf immer das Land der Märchen, der Burgherren und Hexenhäuser, der Riesen und Nixen bleiben.
Deshalb heute, zur Abwechslung nach all den Ecuador-Artikeln, eine kleine Märchenstunde aus Wales, in fünf Geschichten. Inklusive Tipps und Inspirationen für deine eigene Rundreise durch Wales. Viel Spaß!
Jorinde und Joringel
Die Straße wird enger und verwinkelter, je weiter wir kommen. „Hoffentlich kommt uns keiner entgegen“, mein einziger Gedanke, und das, obwohl ich nicht einmal selbst fahre, zum Glück, ich würde vermutlich anhalten und zu Fuß weiterlaufen. Mein Freund sitzt dagegen entspannt zurückgelehnt mit einer Hand am Lenkrad und zuckt mit den Schultern, „Macht doch Spaß!“. Wir passieren einen kleinen Ort, der hauptsächlich aus einem Friedhof zu bestehen scheint, und klappern über Kopfsteinpflaster. Die Straße ist nicht nur eng, es gibt zudem noch keine zwanzig Zentimeter Platz zum Ausweichen, denn auf beiden Seiten steht eine niedrige Mauer, eigentlich für die Schafe, die scheint das jedoch herzlich wenig zu interessieren, immer wieder überquert eines vor uns die Straße. Irgendwann geht es auch noch in engen Kurven bergab. Dann sind wir da.
Es war einmal ein altes Schloß mitten in einem großen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberin. Am Tage machte sie sich zur Katze oder zur Nachteule, des Abends aber wurde sie wieder ordentlich wie ein Mensch gestaltet. Sie konnte das Wild und die Vögel herbeilocken, und dann schlachtete sie, kochte und briet es. Wenn jemand auf hundert Schritte dem Schloß nahe kam, so mußte er stillestehen und konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie ihn lossprach.
Es ist unser erster voller Tag in Wales, und wir sind schon am Parkplatz völlig überwältigt von diesem intensiven Grün, beinahe tun einem die Augen weh, wenn man zu lange schaut. Die weiche Landschaft mit den vom Wind geduckten Bäumen wird durch Zäune und Felsen durchbrochen, aufgerauht, im Horizont verlieren sich die Hügel im Blau. Wir laufen durch ein kleines Waldstück, dann kommt die Ruine in Sicht. Castell y Bere wurde im 13. Jahrhundert erbaut, heute stehen nur noch die Grundmauern. Angeblich war die Burg einmal luxuriös ausgestattet, mit vielen Verzierungen und bunten Fenstern. Heute ist davon nicht mehr viel erkennbar, und es bleibt Platz für umso mehr Vorstellungskraft. An die Artussage mag man denken, an starke Ritter an langen Tafeln oder an böse Hexen, die nachts den Wald unsicher machten, ach was, an jedes einzelne Märchen, das in einer Schloss oder in einem Burg spielt. Wir sind alleine, um uns pfeift nur der Wind, treibt die Wolken vor sich her, rüttelt die Gräser auf. Glück, Entspannung, Urlaub, und dann Ehrfurcht ob der starken Mauern, der langen Jahrhunderte, die sie schon hier stehen. Mit der Zeit wird die Stille unheimlich, die Vergangenheit legt sich auf uns, und wir fahren weiter, mitten durchs Grün.
Das Riesenspielzeug
Die Berge in Wales sehen aus wie die Spielplätze von Riesen, denke ich bei mir. Woher sonst kommen die vielen Felsbrocken her, die mitten auf der Spitze liegen? Und die vielen kleinen Schieferbrocken? Vielleicht hat jemand Felsen geworfen, aus Spaß und Übermut, und da ist einiges abgesplittert. Man fühlt sich ja selbst ein bisschen wie ein Riese in Wales, weil das Land so klein ist und man von den Berggipfeln aus das Meer sieht, fern und doch nah, und dann fühlt man sich doch wieder klein beim Blick über die endlosen Hügel auf der anderen Seite. Die Berge hier, entstanden aus uralten Vulkanen, wirken wie ein Thron für einen Riesen, manche Seen könnten auch ein Fußabdruck sein.
Einmal ging das Riesenfräulein herab ins Tal, wollte sehen, wie es da unten wäre, und kam auf ein vor dem Wald gelegenes Ackerfeld, das gerade von den Bauern bestellt ward. Es blieb vor Verwunderung stehen und schaute den Pflug, die Pferde und Leute an, das ihr alles etwas Neues war. »Ei«, sprach sie und ging herzu, »das nehm ich mir mit.« Da kniete sie nieder zur Erde, spreitete ihre Schürze aus, strich mit der Hand über das Feld, fing alles zusammen und tat's hinein. Nun lief sie ganz vergnügt nach Haus, den Felsen hinaufspringend; wo der Berg so jäh ist, daß ein Mensch mühsam klettern muß, da tat sie einen Schritt und war droben.
Wir Menschen als der Spielball von Riesen, von etwas Größerem, im übertragenen Sinne, das ist hier leicht zu glauben, wo die Gipfel so niedrig aussehen und einen doch mit einem plötzlichen Wetterumschwung überraschen können, wo das Licht in Streifen aus den Wolken fällt und wo bereits in den ersten Momenten der Menschheit heilige Steine Wege markierten.
Die Nixe im Teich
Wenn gute Menschen in Märchen einen Schicksalsschlag erleiden und nichts mehr haben, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können, dann werden sie Schäfer. Der Schäfer, ein genügsamer Mensch, der auf Feldern und Wiesen unterwegs ist und ein einfaches Leben zwischen seinen Tieren führt. Jemand, der vielleicht mehr auf die Tiere gibt, auf ihre Güte und Weisheit, als auf seine Mitmenschen, von denen in jedem Märchen mindestens einer böse sein muss. In Wales leben die Schafe allein, eingezäunt oder eingemauert, und scheinen einen Schäfer nicht allzu sehr zu vermissen. An Menschen haben sie grundsätzlich wenig Interesse, drehen uns lieber den Rücken zu und laufen zu ihren Artgenossen, bilden eine Gruppe aus gelblichweißen Wollkörpern.
Als wieder einmal der Frühling aus der Erde hervorgebrochen war, zogen beide an einem Tag mit ihren Herden aus, und der Zufall wollte, daß sie einander entgegenzogen. Er erblickte an einem fernen Bergesabhang eine Herde und trieb seine Schafe nach der Gegend hin. Sie kamen in einem Tal zusammen, aber sie erkannten sich nicht; doch freuten sie sich, daß sie nicht mehr so einsam waren. Von nun an trieben sie jeden Tag ihre Herde nebeneinander; sie sprachen nicht viel, aber sie fühlten sich getröstet.
Wir wandern um den See nahe unserer Unterkunft, werfen uns in Grün, suchen eine Abkürzung, kämpfen uns zwischen den Schafen durchs hohe Gras, durchqueren kleine Bäche und überklettern Zäune. Wir sitzen auf Mauern und Wiesen, genießen die Sonne, zählen die Wolken, Hauptsache gemeinsam. Märchenhaft lugt der See zwischen den Bergen hervor, die allzu blauen Wogen könnten gut und gerne Meerjungfrauen und Nixen unter sich verstecken, und beim Blick aufs andere Ufer wird in der Vorstellung aus der kleinsten Hütte ein prächtiges Schloss.
Das Märchen vom Schlaraffenland
Auf der Suche nach einem versteckten See landen wir an einem Parkplatz, der zu einem baufälligen Hotel gehört. Gottverlassen, so könnte man die Ecke beschreiben, der Himmel wetteifert mit dem kaputten Beton um das tristere Grau. Außer unserem Auto stehen hier nur einige Baugerätschaften, nebenan liegt eine Tankstelle, die wohl bereits seit Jahren verlassen ist, so beginnen Horrorfilme, könnte man denken. Dann hinter uns aus dem Nichts ein lautes, langgezogenes „Tuuuut“, der Ort Fairborne ist für seine Miniaturzugstrecke bekannt. Einige ältere Herrschaften sitzen darin, praktisch ausgestattet mit grellbunten Regenjacken, und winken uns zu, es gibt kaum etwas, das noch deplatzierter hätte wirken können in dieser Szenerie. Einmal das Hotel beziehungsweise den zugehörigen Pub betreten und es gibt keine Spur mehr von Einsamkeit oder Horrorfilm-Szenerie. Es wird getrunken, gelacht und Dart gespielt, die Atmosphäre ist so offen und herzlich wie immer in britischen Pubs, ein älterer Herr, der bereits etwas schwankt, erzählt uns davon, dass er begeistert ist vom Tempelhofer Feld in Berlin. Wir bekommen Essen serviert, Sunday Roast, eine riesige Portion mit so vielen verschiedenen Bestandteilen, dass sie kaum alle auf den Teller passen.
Wer sich also auftun und dorthin eine Reise machen will, aber den Weg nicht weiß, der frage einen Blinden; aber auch ein Stummer ist gut dazu, denn er sagt ihm gewiß keinen falschen Weg.
Wales, das Land der Überraschungen. Wer kommt schon darauf, eine Reise nach Wales zu buchen, wo doch Irland und Schottland um die Ecke liegen? Das magische Snowdonia belohnt diejenigen, die hinfinden, die ohne Erwartungen in dieses grüne Bisschen Nirgendwo reisen, die die Dinge anders machen, als es herkömmliche Vorstellungen besagen.
Hans im Glück
Unsere Zeit in Wales, eine Insel der Glückseligkeit. Das Leben so einfach, die Umgebung so grün, die Menschen so freundlich. Eine Reise, die nicht mit Ideen und Plänen einherging, die wir nicht tun, um uns etwas zu beweisen, uns zu finden oder ein Land von einer Liste abzustreichen. Das Glück, das findet sich in der Freiheit, vielleicht eine der schönsten Lehren aus einem Märchen, und ohne Plan fühlt sich das Leben manchmal so erstaunlich richtig an.
»So glücklich wie ich«, rief er aus, »gibt es keinen Menschen unter der Sonne.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.
Was ist dein Lieblingsmärchen? Und hat dich eine Reise schon einmal daran erinnert?
Was für ein toller Beitrag! Wundervoll geschrieben,vielen Dank!
Als Kind mochte ich die Geschichte von Jorinde und Joringel sehr gerne und wollte meine Kinder auch so ähnlich benennen. Inzwischen finde ich gleich klingende Namen nicht mehr so schön, aber das Märchen mag ich immer noch.
Ein wirklicher wundervoller Beitrag – und so märchenhaft geschrieben!
Ich habe mir letztes Jahr in Irland auch ein „Irish Fairytales“ mitgenommen, die ich förmlich verschlungen habe. Sowas ist einfach faszinierend. Und dann verbunden mit dieser Landschaft, die Wales ja auch genau so schön hat, kann man sich das gleich noch viel besser vorstellen, dass gleich ein Riese um die Ecke gestiefelt kommt 🙂