Borjomi, Georgien

Georgien – schön, aber kalt, ist mein Resümee nach der Hälfte der Woche. Und gleichzeitig ist es irgendwie doof, ein Resümee zu ziehen, habe ich schließlich fast nur die Hauptstadt gesehen. Irgendwo anders wollen wir auch noch hin, um ein bisschen was von Georgien zu sehen, nur wohin?! In den Großen Kaukasus und zur Heerstraße, nach David Gareja, nach Swanetien oder doch in die Geburtsregion des Weins Kachetien? Georgien hat viel zu bieten und dann auch wieder doch nicht, denn einige Landesteile können wir aus Sicherheitsgründen schon einmal ausschließen und viele Regionen Georgiens sind touristisch noch so wenig erschlossen, dass es ohne eigenes Auto keine Möglichkeit gibt, dort hinzureisen. Wir überlegen die ganze Woche hin und her und fahren letztendlich nach Borjomi, eine Stadt, mit der ich mich in der Reiseplanung im Vorfeld überhaupt nicht beschäftigt hatte. Unser Ziel ist, eine kleine Tour zum Felsenkloster Vardzia zu machen, und sonst sind wir ziemlich flexibel.

Schön, aber kalt – extradoof, jetzt auch noch in die Berge zu fahren. Ich nehme nur einen kleinen Rucksack mit und stopfe alles an warmen Klamotten hinein, was ich finden kann. Alpakasocken, dicke Pullis, Leggings, die letzte Nacht im Schlafsack im zugigen Wohnzimmer mit dem Klebeband um die Fenster hängt mir noch in den Knochen. Die Kleinbusse, die in Georgien herumfahren, starten nach einem simplen Prinzip, sie fahren los, wenn sie voll sind. Wir kommen gerade zur falschen Zeit und warten eine gefühlte Ewigkeit. Von der Fahrt bekomme ich nichts mit, weil ich die ganze Zeit schlafe. Als wir da sind, wollen wir zur Touristeninformation, und brauchen erst mal ein wenig, um dort hinzufinden. Niemand versteht mich, ich verstehe die Karte nicht und fühle mich ziemlich verloren. Borjomi wirkt wie eine kleine Stadt, in der es all das gibt, das zum täglichen Leben notwendig ist, aber eben auch nicht viel mehr. Ringsum der Blick auf hohe, tannenbewachsene Berge, es könnte ein romantisches Naturpanorama sein, stünden nicht die Plattenbauten im Weg. Der für uns erste Schnee des Jahres liegt am Straßenrand, auch, wenn einiges schon weggetaut ist. Die Bäume tragen trotzdem noch Blätter und erstrahlen in der Sonne in den schönsten Herbstfarben.

Mit Betreten der kleinen Hütte, die die Touristeninfo ist, scheinen wir die Stadt komplett hinter uns zu lassen. Man spricht englisch oder sogar deutsch, die Hütte ist nagelneu, schick gestaltet mit Glaswänden und Holzregalen, die von der Decke hängen, dekoriert mit georgischem Kunsthandwerk und vielen Flyern über die Region. Katzen schleichen auf der Terrasse herum. Artur, der hier den Laden schmeißt, fackelt nicht lange und hat uns innerhalb von fünf Minuten eine Unterkunft bei einem seiner Kumpel, eine Tour für den morgigen Tag nach Vardzia mit einem seiner Kumpel als Fahrer sowie Flyer mit Wanderrouten für den Nachmittag organisiert. Irgendwie faszinierend, mitzuerleben, wie sich der Tourismus hier langsam etabliert – während die überwiegende Mehrheit der Menschen kaum etwas vom Tourismus mitbekommt, scheint Artur schon dick im Geschäft zu sein und sein persönliches Netzwerk von privaten Unterkünften, Tourguides und mehr schon über die ganze Stadt gespannt zu haben. Ohne ihn wären wir komplett aufgeschmissen, denn sein flüssiges Englisch steht im krassen Gegensatz dazu, dass ich sonst nichts und niemanden verstehe.

Der ältere Herr, bei dem wir untergekommen sind und der uns direkt von der Touristeninformation abholt, spricht Georgisch, Russisch und vielleicht fünf Wörter Englisch und klopft uns für meinen Geschmack ein bisschen zu herzlich auf die Schultern. Auch, wenn seine und meine Sprachen fast keine Schnittmengen aufweisen, erfahre ich, dass das W-lan-Passwort der Name seiner Kinder ist und bekomme erst einmal Familienfotos gezeigt. Überall in der Wohnung ist es wunderbar warm, in unserem Zimmer steht ein eingeschalteter elektrischer Heizkörper und nachdem wir glücklicherweise erfolgreich eine Runde Schnaps abwenden können, bekommen wir selbst gemachten Wein, Kuchen und Kekse serviert. Ich bin fasziniert, dass in Georgien wirklich jeder mit ein paar Quadratmetern Grund Weintrauben anbaut und diese dann auch direkt in eigenen Alkohol verwandelt. Wenn man aus dem Fenster blickt, kann man ein paar Pflanzen sehen und in der Küche finden sich überall dunkelrote Spritzer vom Zerdrücken der Trauben.

Irgendwann schaffen wir es tatsächlich, wieder loszukommen, und steuern erst einmal das Besucherzentrum des Borjomi-Charagauli-Nationalparks an. Hier ist alles auf Leute ausgerichtet, die den Park für längere Zeit bewandern möchten. Schlafsäcke zum Ausleihen liegen parat, die meisten eingezeichneten Wanderwege haben keine Stunden-, sondern eine Tages-Angabe. Trotzdem werden uns auch ein paar Wege erklärt, die eigentlich nur am Rande der Stadt ein wenig durch den Wald laufen. „It’s impossible to get lost!“ – Ich habe noch die Worte der Frau im Besucherzentrum im Kopf, als die Wegmarkierungen auf einmal aufhören und wir zwischen Bäumen und Zäunen durch den Wald irren. Die Sonne scheint, ich fange an zu schwitzen. Überall tropft es und der Boden ist so nass und rutschig, dass das Vorwärtskommen manchmal gar nicht so einfach ist. Irgendwann kommen wir an einem Friedhof an und müssen teilweise sogar über die Gräber klettern, um zurück zu einem Weg zu finden. Dass die meisten Toten mit einem kleinen eingravierten Portrait oder sogar einem Ganzkörperbild auf ihrem Grabstein abgebildet sind, gibt dem Ganzen eine unheimliche Stimmung. Zum Glück ist es hell, die Sonne scheint und wir haben gerade wieder in die Zivilisation gefunden – sonst hätte mich das Gefühl, von allen Seiten von kürzlich Verstorbenen beobachtet zu werden, bestimmt ganz schön frösteln lassen.

Borjomi selbst ist übrigens für seine Heilquellen bekannt. Wer in Georgien ein Mineralwasser bestellt, bekommt wahrscheinlich ein „Borjomi mineral water“, das merkwürdig salzig, ein bisschen wie eingeschlafene Füße und trotzdem undefinierbar gut schmeckt und angeblich gegen alle möglichen Krankheiten hilft. Schon 1906 wurde in Borjomi die erste Abfüllfabrik für Wasser gegründet und seitdem wurde das Heilwasser vor allem nach Russland exportiert. Mit der Verschlechterung der Beziehungen der beiden Länder gab es jedoch ein Verbot des Borjomi-Wassers in Russland, angeblich aus gesundheitlichen Gründen. Kostenlos und ganz ohne Probleme kann das Wasser in einem Park in Borjomi getrunken werden, sogar in verschiedenen Versionen, warm und kalt. Flaniert man im November rings um das grüne Pavillon, unter dem das Wasser in ein kleines Becken plätschert, wird einem klar, dass Borjomi eher ein Sommerort ist – früher sogar die Sommerresidenz russischer Zaren, sowjetischer Herrscher und berühmter Schriftsteller. Betrachtet man die verfallenen Villen und die riesigen Hotelkomplexe, kann man sich gut ausmalen, wie es hier in vergangenen Sommern einmal ausgesehen haben muss, wie nobel es gewesen sein muss, hier Urlaub zu machen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der Tourismus in Borjomi seine besten Tage hinter sich gelassen – auch, wenn im Sommer trotzdem noch viele Menschen aus der Hauptstadt in den Ort strömen. Im Winter hingegen fährt man eher nach Bakuriani, um Ski zu fahren. In Borjomi ist es jetzt leer und kalt, die Seilbahn am Rande des Parks fährt nicht mehr und man hat die Wege für sich alleine. Auf der Straße kommen uns immer wieder Kühe entgegen, die ganz alleine durch die Stadt trotten. Als wir am späten Abend wieder in Richtung Unterkunft laufen, sammeln zwei ältere Frauen im Halbdunkel des Parks verstohlen Äste und Zweige vom Boden auf.

Als wir am nächsten Tag zu unserer Tour nach Vardzia aufbrechen und unsere Mitreisenden für diesen Tag, drei junge Männer aus Litauen, kennen lernen, stelle ich fest, dass wir mit unserer Unterkunft richtig Glück hatten. Während mir nachts schon fast zu warm war und ich ein bisschen darüber fluchen musste, sinnloserweise meinen Schlafsack mitgenommen zu haben, erzählen uns die Litauer, wie sehr sie vergangene Nacht gefroren haben: „I said goodbye in the evening because I didn’t know if I would be alive the next morning to meet them again!“

8 Gedanken zu “Borjomi, Georgien”

  1. Die Bilder sehen wirklich vielversprechend aus 🙂 Ich muss zugeben, dass ich Georgien nie so wirklich auf dem Schirm hatte – bis ich auf der diesjährigen WTM in London mal mit dem Tourismusbord ins Gespräch gekommen bin. Die haben mir wirklich Lust auf eine Reise dorthin gemacht. Mal sehen, vielleicht lässt sich das ja bald mal verwirklichen. LG Franzi

  2. Was man für tolle Sachen erlebt, wenn man abseits der ausgetrampelten Touristenpfade geht. 😉 Allerdings… "ein bisschen wie eingeschlafene Füße und trotzdem undefinierbar gut schmeckt"… das kann ich mir nun so gar nicht vorstellen! 😀

  3. Um ehrlich zu sein weiß ich über Georgien so gut wie gar nichts. Umso spannender fand ich deinen Blogartikel. Die Bilder zeigen zudem sehr gut, was du meinst. Und das Wasser würde ich echt gerne mal probieren – ist ja eine abenteuerliche Geschmacks-Beschreibung. 😉

    Liebe Grüße,
    Sarah

  4. Haha von dem Borjomi Wasser habe ich sogar schon was gehört, meine Oma hat da glaub ich was erzählt. Finde es schade, dass die Stadt so uneinladend war, aber ihr habt dennoch gut was erlebt 🙂

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