All the Young Dudes

Das erste Mal überkam mich die Erkenntnis vor über einem Jahr in meinem Portugiesischkurs. Ich hatte recht spät damit angefangen, im fünften Semester, fast alle anderen waren Erstsemester. Klar, jemand, der seit einer Woche an einer Uni ist hat andere Gesprächsthemen als jemand, der bald seinen Abschluss dort macht, aber sonderlich anders als der Rest des Kurses fühlte ich mich nicht. Bis wir Zahlen und Altersangaben durchnahmen und uns in kleinen Gruppen gegenseitig nach unserem Alter fragen sollten. „Veintiuno“, einundzwanzig, antwortete ich und sah, wie die Augen meines Gegenübers immer größer wurden.

„Ach du Scheiße“, entfuhr es ihm auf Deutsch, für solche Ausdrücke reichte unser Portugiesisch-Wortschatz noch nicht, „ich dachte, du wärst auch in unserem Alter.“ Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich lachen oder mich ärgern sollte. Ich habe so gar kein Interesse daran, noch einmal achtzehn zu sein, und weiß selbst, dass die drei oder vier Jahre, die zwischen 18 und Anfang zwanzig liegen, vor allem in Bezug auf Selbstständigkeit und persönliche Reife viel ausmachen können. Aber aus dem Mund eines Achtzehnjährigen zu hören, dass ich nicht mehr zur gleichen Altersgruppe gehöre wie er, fast so, als wäre ich Teil einer ganz anderen Generation?! Das hat mich dann doch etwas getroffen.

Jetzt, mehr als ein Jahr später, fange ich an, Veränderungen an mir zu bemerken, ich beginne, Dinge zu tun, die ich mir mit 18 oder 19 niemals hätte vorstellen können. Gleichzeitig muss ich den Kopf schütteln, wenn ich mir Texte durchlese, die ich vor ein paar Jahren geschrieben habe, oder an Dinge denke, die mir damals im Kopf herumspukten, und jedes Mal kommt mir der Moment im Portugiesischkurs wieder in den Sinn. „Ach du Scheiße“, denke ich mir dann auch, während sich Verwunderung, Stolz und Angst in meinem Kopf darum streiten, wer meine Reaktion steuern darf.

Während ich mich früher hauptsächlich über meine dicken Haare geärgert habe, weil man sie nur lang tragen kann und sie mit ihrer mehrstündigen Trockenzeit einfach unpraktisch sind, investiere ich heute gefühlt ein kleines Vermögen in Pflegeprodukte. Hätte man mir vor ein paar Jahren erzählt, dass ich einmal Internetrecherchen zum perfekten silikonfreien Naturkosmetik-Shampoo starten würde, ich hätte wohl angefangen zu lachen… Während ich früher alles an Erlebnissen mitnahm und dafür auch ab und an im metaphorischen Sinne eine blutige Nase riskierte, weiß ich heute, dass ich vieles nicht brauche, um glücklich zu sein. Während ich früher die Entscheidung traf, mein Studium zu verlängern, wünsche ich mir mittlerweile hauptsächlich meinen Abschluss herbei. Hätte man mir früher von diesem Drang, etwas vorweisen zu können, erzählt, ich hätte mein zukünftiges Ich verachtet. Jetzt ist es mir egal, wie mein Abschluss ausfällt, ich möchte nur noch zeigen können, dass ich etwas beendet habe, möchte in Umfragen nicht mehr „Höchster Abschluss: Abitur“ ankreuzen müssen.

Wenn man beginnt, erwachsen zu werden, fühlt sich jede Entscheidung so an, als hätte sie Tragweite für das ganze Leben. Ich bin mir sicher, wenn ich in zehn Jahren darauf zurückblicke, muss ich über die Nichtigkeit der Dinge, die mir einmal so überaus wichtig erschienen, lachen, aber jetzt gerade würde ich mich beim Gedanken an meine Zukunft am liebsten tief irgendwo vergraben. Mit achtzehn schien alles so locker und leicht, ich suchte mir ein Studium aus, schon mit dem Hintergedanken, dass ja noch ein Master kommen würde und die Arbeitswelt noch weit entfernt war. Ich wählte etwas, das so breit aufgestellt war, dass es fast nicht einer Entscheidung glich, ich schob alles auf später auf. Ins Ausland gehen, der Beschluss war schnell gefasst, und so wirklich gab es nichts, was mich zurückhielt. Klar, Familie und Freunde für so lange Zeit zurückzulassen, ist nie einfach, aber ich hatte damals im Hinterkopf, dass der Kontakt zur Familie ohnehin anhält – und Schulfreundschaften sowieso nur im Ausnahmefall ein Leben lang halten. Damals erfüllte mich dieses Gefühl unglaublicher Freiheit, und ich gönnte mir auch die Freiheit, Fehler zu machen.

Heute liege ich nächtelang wach, weil ich nicht weiß, was ich mit meinem Leben anstellen möchte, und vor allem, weil ich nicht weiß, was richtigerweise der nächste Schritt wäre. Während ich mir früher dachte, dass jede Erfahrung reicher macht und man alles wieder rückgängig machen kann, weiß ich heute, dass zumindest Letzteres nicht stimmt. Was, wenn ich mich entschließe, für längere Zeit ins Ausland zu gehen – und meine Beziehung das nicht überlebt? Was, wenn ich mich dafür entscheide, Auslandspläne aufs Eis zu legen – und mich später, wenn die Chance vorüber ist, darüber ärgere? Was, wenn ich mir eine berufliche Laufbahn aussuche und jahrelang darauf hinarbeite, diese mir am Ende gar nicht gefällt – und ich ganz von vorne anfangen muss?

Mit all diesen Unsicherheiten muss man leben, schließlich kann man nicht in die Zukunft blicken. Und doch habe ich so große Angst vor dem „Hätte ich doch damals…“ – schließlich gibt es für mich nur dieses eine Leben. Ich möchte mir am liebsten alle Optionen offen halten und lese dennoch überall Ratschläge à la „Such dir das, was du liebst, und arbeite mit allem, was du hast, darauf hin!“. Ich habe das Gefühl, dass die Bauchentscheidungen jetzt mal aufhören müssen – und weiß doch nicht, welche anderen Kriterien ich zu Rate ziehen soll. Ich weiß, dass Freiheit für mich nicht mehr das allerhöchste Gut ist – und habe doch keine Ahnung, was jetzt meine Werte sind.

Vielleicht ist das Merkwürdigste an dem ganzen Gefühlschaos, dass ich trotz allem so glücklich bin wie nie. Ich weiß nicht, in welche Richtung ich gehen soll, aber wo ich gerade stehe, fühlt es sich ziemlich gut an. Und jetzt wird es noch verrückter: Ich freu mich riesig auf alles, was noch kommt. Ich habe Angst, den falschen Schritt zu gehen, aber trotzdem Lust darauf, den Fuß auf die Erde zu setzen. Ich habe Panik davor, später einmal etwas zu bereuen, und doch weiß ich, dass ich jede Sekunde auskosten werde, auch vom Schlimmsten, das passieren könnte.

Anfänge von Wahnsinn? Möglicherweise. Vielleicht ist aber auch das Teil des Erwachsenwerdens: Augen zu und durch, mit pochendem Herzen ruhig Entscheidungen treffen, akzeptieren, dass man dieses und jenes nicht planen kann und sowieso immer alles anders kommt, als man sich vorher dachte. Beim Thema „Selbstoptimierung“ nur müde lächeln, sich nicht darum scheren, dass man Dinge vielleicht besser oder klüger hätte tun können, sicher sein, dass man selbst die einzige ist, die wissen kann, was gut für einen ist. Und sich von Kommentaren zum eigenen Alter nicht aus der Fassung bringen lassen.

4 Gedanken zu “All the Young Dudes”

  1. Du sprichst mir aus der Seele! Ich fühl mich regelrecht uralt wenn ich die ganzen Erstsemester an der Uni rumwuseln seh.. 😀 Und mein Studium ist auch so eins von den vielen mit denen man „eigentlich alles machen kann“. Oder halt auch garnichts. „Charakterbildend“ nennt sich das. Mal schauen wohin das noch führt… Wie auch immer, dein Text ist toll und es hat mir eine Freude bereitet, ihn zu lesen! 🙂

    1. Haha, gut, dass ich nicht die einzige bin 😉 Die werden einfach jedes Jahr jünger!
      „Charakterbildend“ find ich gut, das muss ich mir merken! Bei uns heißt es immer eher „zu allem fähig, zu nichts zu gebrauchen“ 😉

  2. Wart erstmal ab, wie das erst wird, wenn es auf die 30 zugeht und man plötzlich nicht mehr nach Haarpflegeprodukten sondern Strompreisen, Haftpflichtversicherungen und vermögenswirksamen Leistungen des Arbeitgebers googlet… 😀
    Ich weiß, ich klinge jetzt wie ein altkluger Mann der vom Krieg erzählt, aber genieß die Uni-Zeit und damit verbundene Freiheit so lange es noch geht. Der richtige Nervkram kommt erst noch, damit verbunden aber auch ein noch viel größeres Gefühl von Freiheit.
    Und das gleicht vieles wieder aus.

    1. Haha, genau das denke ich mir auch immer 😀 Oh weh… Ein bisschen kenne ich das ja auch schon so, schließlich ist mein Freund dieses Jahr 30 geworden 😉 Danke für den lieben Kommentar!

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