Wie ich in Tiger and Turtle die Sonne jagte

Ich habe manchmal das Gefühl, mir passieren Dinge, die nur nachvollziehen kann, wer selbst gerne fotografiert, schreibt und/oder bloggt – und deswegen finde ich es gar nicht schlimm, ab und an alleine zu verreisen. Muss ja nicht mit jeder und jedem meinen Wahnsinn teilen… Mein Lauf zu Tiger and Turtle in Duisburg ist jedenfalls mal wieder eine solche Sache gewesen. Aber ich fange mal am Anfang an. Als meine Reise ins Ruhrgebiet mit NRW Tourismus feststand, war mir eins klar: Ich wollte zum Magic Mountain bei Duisburg, zu Tiger and Turtle. Klingt ein bisschen nach psychedelischem Trip, ist aber eine riesige Kunstinstallation auf einer Halde.

Für Ruhrgebiet-Neulinge: Eine Halde ist im Prinzip ein künstlicher Berg. Im Ruhrgebiet sind einige davon entstanden, da nicht verwertbare Reste und Abfälle aus dem Bergbau auf einen Haufen gekippt wurden. Die Halden sehen sehr unterschiedlich aus, manche gibt es schon so lange, dass sie von einem normalen, natürlich entstandenen Berg kaum zu unterscheiden sind. Andere, die noch nicht so alt sind, wirken in der flachen Landschaft völlig deplatziert. Viele sind zudem unnatürlich kreisrund. Tiger + Turtle steht auf den Resten einer Zinkhütte, die 2005 stillgelegt wurde. Früher war das gesamte Gelände hochkontaminiert, die Reste in der Zinkproduktion sind nicht gerade förderlich für die Gesundheit von Boden und Mensch. Damals machte man sich aber relativ direkt daran, die Gifte mit einer Kunststoffschicht zu versiegeln und darüber Erde aufzuschütten und Bäume und Büsche anzulegen. Seit 2008 darf man auf der Halde, die inzwischen Heinrich-Hildebrand-Höhe getauft wurde, spazieren gehen.

Nochmal für Ruhrgebiet-Neulinge: Auf dem Großteil dieser Halden stehen inzwischen Kunstinstallationen, so genannte Landmarken, die weithin sichtbar und nachts oft sogar beleuchtet sind. Auch für die Heinrich-Hildebrand-Höhe wollte man im Rahmen des Projekts RUHR.2010 eine solche Landmarke und schrieb einen Wettbewerb aus, den die begehbare Achterbahn „Tiger and Turtle“ von Heike Mutter und Ulrich Genth gewann. Auf Fotos fand ich die Installation absolut gewaltig. Fee schrieb darüber, Juli schrieb darüber, meine Augen und meine Begeisterung wurden immer größer und als ich nun ohnehin schon in Essen war, war mir klar, ich würde am Samstag einen abendlichen Abstecher dorthin machen. Im Sonnenuntergang, so hatte ich mir das in den Kopf gesetzt. Wie halbprofessionelle Fotografinnen das so machen, guckte ich sogar vorher die Sonnenuntergangszeit (20:43) nach und freute mich über das gute Wetter, das einen wunderbaren Sonnenuntergang versprach. Alles also perfekt geplant, aber wie das so ist, je besser man plant, desto eher geht irgendetwas schief. Sehr viele Fußballfans, die von einem Ort zum anderen, beziehungsweise vom Stadion nach Hause, bewegt werden mussten, sorgten dafür, dass mein Zug von Essen nach Duisburg Verspätung hatte. Und ich meine Straßenbahn zu Tiger and Turtle verpasste.

Jetzt sollte man meinen, das wäre ja nicht so schlimm, denn Straßenbahnen fahren ja häufiger und Tiger and Turtle als touristische Attraktion sollte ja irgendwie mehr als einmal die Stunde erreichbar sein. Aber nein – die nächste und die übernächste Bahn in die Richtung fuhren nur die halbe Strecke. Was ich auch erst durch einige Recherche herausfand. Ich hatte wirklich eine schöne Zeit im Ruhrgebiet, aber, liebe Duisburger Verkehrsbetriebe, mit euch habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. In Duisburg hielt ich mich damit aber nicht lange auf, denn mir war eins klar: Ich würde Tiger and Turtle vor dem Sonnenuntergang erreichen. Koste es, was es wolle. Also imaginäres Heldinnen-Cape an und abgedüst. Auf halber Strecke stieg ich dann aus, so gegen viertel nach acht. Drei Kilometer zeigte Google Maps an, und ich ging mit Wahnsinns-Glitzern in den Augen im Stechschritt erst an Baumärkten, dann am Rheinufer, für dessen Schönheit ich in dem Moment keine Zeit hatte, und schließlich an den Straßenbahnschienen entlang. Ich sagte ja: Dinge, die Nicht-FotografInnen nicht nachvollziehen können. Wenn ich mir in den Kopf gesetzt habe, dass ich an einer Stelle zum Sonnenuntergang fotografiere, dann bin ich zum Sonnenuntergang dort, auch wenn ich völlig fertig ankomme. Mittlerweile kam ich mir, so kurz vor Ende, richtig heldinnenhaft vor – ich hatte schließlich die Maschinen besiegt, den Duisburger Verkehrsbetrieben ein Schnippchen geschlagen, ich kam an, trotz der Steine, die mir in den Weg gelegt wurden. So!

Natürlich kam auch dann wieder alles ein bisschen anders. Als ich so an den Straßenbahnschienen entlang lief, sah ich auf einmal, dass in einer Minute die nächste Bahn kam. Nach Tiger and Turtle. Also nichts mit Maschinen besiegt, die Maschinen hatten mich eingeholt. Und hätte ich die Maschinen von Anfang an verstanden, hätte ich auch am Duisburger Bahnhof sitzen bleiben und die Bahn abwarten können, die jetzt, eine Haltestelle vor meinem Ziel, einfuhr. Aber naja, was macht man nicht alles, wenn der Wunsch nach dem perfekten Bild einen aufscheucht und losrennen lässt. Meine Freude darüber, gerade so zum Sonnenuntergang anzukommen, wurde nur kurz davon getrübt, dass ich mich von der Bahn aus beim ersten Anblick der Achterbahn daran erinnerte, dass eine Halde ein künstlicher Berg ist. Genau, ein Berg. Nach beinahe drei Kilometern im Halb-Jogging-Schritt musste ich nun auch noch einen Berg hinaufklettern. Aber was macht man nicht alles. Die Motivation über die untergehende Sonne in meinem Rücken gab mir einen letzten Schub und ich rannte den Weg nach oben. Oben angekommen war mir klar: Ich war zum absolut perfekten Moment gekommen.

Der Sonnenuntergang wäre auch ohne Achterbahn-Skulptur eine Bergbesteigung wert gewesen. Man sagt ja immer, je verschmutzter die Luft, desto schöner und röter der Sonnenuntergang (in Lima konnte ich das schon bestätigen), und so war ich den rauchenden Schornsteinen im Süden von Duisburg mehr als dankbar für diesen Anblick. Hinter Tiger and Turtle hatten sich rings um den Berg locker fünfzehn FotografInnen mit Stativen positioniert – wie langweilig! Viel spannender ist es doch, die Achterbahn selbst zu erkunden und sich in jedem Moment über eine andere Perspektive auf die verschiedenen Wege und die Landschaft ringsum zu freuen.

Bitte nicht nachmachen – auch, wenns fotogen aussieht. Ein Irrer musste natürlich trotz Verbot auf den Looping klettern.

Tiger and Turtle, ein komischer Name für eine solche Installation. Laut der beiden Künstler geht es dabei um den Gegensatz zwischen Geschwindigkeit und Stillstand, zwischen einem schnellen und einem sehr langsamen Tier. Die Skulptur vermittelt von weit weg das Bild von Geschwindigkeit und Dynamik, die Menschen darauf bewegen sich jedoch, anders als bei einer normalen Achterbahn, langsam. Das soll Bezug nehmen auf die Region Ruhrgebiet, in der früher immer schneller immer mehr abgebaut und produziert wurde, und in der sich heute die Prinzipien eher hin zu Rückbau, Umnutzung und Ökologie verschoben haben. Auch in den verwendeten Materialien nimmt Tiger and Turtle Bezug zu seiner Umgebung, die Skulptur besteht nämlich aus verzinktem Stahl.

Was mich an der Installation fasziniert, ist vor allem der Bruch durch den Looping, der natürlich nicht begehbar ist. So gibt es zwei Wege, einer von jeder Seite, die sich in der Mitte nicht treffen. Auf den ersten Blick ist durch die vielen Kurven gar nicht ersichtlich, welcher Weg wohin führt, und ob man auf dem selben Weg steht wie jemand anders oder erst wieder absteigen und in die andere Richtung laufen muss. Noch dazu finde ich es einfach fantastisch, wie man auf jedem Meter eine ganz andere Perspektive auf die Installation hat, aus jeder Richtung sieht Tiger and Turtle komplett anders aus und weckt andere Assoziationen. Großartig ist natürlich auch die nächtliche Beleuchtung. Da damit nur die Strukturen sichtbar werden und die Menschen irgendwann im Dunkel verschwinden, hat man noch mehr den Eindruck, von jeder Seite ein ganz anderes Bild zu bekommen.

Aber ich höre jetzt mal auf zu schwärmen und lasse einfach die Bilder sprechen, von denen ich ganze 110 gemacht habe. Klingt gar nicht so viel, ist in Relation zu den insgesamt 336 Ruhrgebiet-Fotos aber doch eine ganze Menge… Als ich übrigens in meiner absoluten Euphorie meinem Freund ein Foto schickte, kam ein ziemlich ratloses „Na und, was kann man da machen? Ich fänd ja eine richtige Achterbahn besser…“ zurück. Kann eben nicht jeder die Leidenschaft für Dinge, die fotogen auf einem Hügel herumstehen, teilen.

Unterstützt bei meiner Reise durchs Ruhrgebiet wurde ich von NRW Tourismus. Vielen vielen Dank dafür! Im Rahmen der Aktion „Sieben für den Sommer“ haben übrigens auch andere BloggerInnen verschiedene Orte in NRW unsicher gemacht: Tanja schreibt über die vielen Sehenswürdigkeiten Kölns, Martin stellt die Türmerin von Münster vor, Marc war im Bergischen Land unterwegs, Elke hat das japanische Leben in Düsseldorf erkundet, Janett hat festgestellt, dass es Bielefeld tatsächlich gibt, und Romy hat Aachen erkundet.

29 Gedanken zu “Wie ich in Tiger and Turtle die Sonne jagte”

  1. Großartige Bilder hast du da gemacht. Da hat sich die Sporteinlage definitiv gelohnt. Wieso man allerdings nicht nachvollziehen kann, wie toll das da ist (Sinn und Zweck hin oder her), DAS erschließt sich mir nicht :D!

  2. Wow, also ich bin eigentlich nicht für so künstlerische Dinge zu begeistern, aber Tiger und Turtle sieht echt klasse aus und du hast mich echt angefixt- ich will da auch mal hin 😀
    Ich glaube, ich würde auch zum Sonnenuntergang dorthin fahren, denn deine Bilder sind richtig schön geworden. Eigentlich ist es ja nur ein Gebilde, aber wie du schon sagst, es sieht immer wieder anders aus.
    Ich denke, ich würde mich dann aber informieren, wo Fußballfans meinen Weg kreuzen könnten, denn dein Weg klingt echt anstrengend…

    Liebe Grüße
    Julia von Floral Heart

  3. Thihi, bei der Reise hatte ich mich tatsächlich auch beworben, aber für Essen 😛 Einen tollen Platz hast du dir da ausgesucht. Hab ich schon ab und an mal bei Instagram gesehen. Ist natürlich super mega fotogen!

  4. Wow, ich hab noch nie davon gehört und es sieht soooo großartig aus! Du hattest natürlich glück mit dem Sonnenuntergang aber die Bilder sind auch einfach der Hammer. Ich liebe so Silhouettenbilder vor Sonnenuntergang! Und die Skulptur. Hach. Top!

  5. Vor 2 Jahren als ich eine Freundin in Duisburg besucht habe, hat sie mich dort auch hingeschleppt. Der Weg ist zwar nicht der tollste für so einen unsportlichen nicht ausdauernden Menschen für mich aber oben angekommen hat es sich dann doch gelohnt. Leider hatten wir nicht diese schöne Abendstimmung mit Sonnenuntergang sondern ein bewölkten Himmel mit kalten Wind. 😀

    Liebste Grüße,
    Hannah. 🙂

  6. Hey Ariane, ich musste so grinsen bei deinen Schilderungen am Anfang. Was man nicht alles für Fotos macht… Ich kann das total nachvollziehen:D Und Danke für's Aufmerksammachen dieser Location. Sieht wirklich toll aus!

  7. Mega coole Bilder!
    Die Silhouette sieht vor dem Sonnenuntergang wirklich klasse aus, da haben sich die Strapazen ja gelohnt 😉 Und auch die Nacht-Fotos sind sehr schön, der Mond passt toll ins Bild.

    Liebe Grüße ♥

  8. Hallo Ariane,
    ich wollte dir schon länger schreiben zu diesem Beitrag. Total cool, dass du im wunderschönen Ruhrgebiet warst. In meiner Heimat. Tiger & Turtle ist traumhaft schön, oder? Also das ist, vor allem bei Sonnenuntergang wirkliche Pott-Romantik. Wenn man hier aufgewachsen ist, dann weiß man solche Orte richtig zu schätzen. 🙂
    Ich habe auf meinem Blog in diesem Jahr schon über den Landschaftspark Duisburg-Nord und den Tetraeder berichtet. Kennst du die beiden Kulturstätten? Wenn nicht, dann musst du dort auf jeden Fall auch noch hinreisen! Vor allem der Landschaftspark ist traumhaft schön!

  9. ein sehr gelungener Post! Die erzählte Geschichte ist sehr spannend, ich habe richtig mitgefiebert, dass du es noch rechtzeitig schaffst. Es hat sich außerdem echt gelohnt, denn die Fotos sind dir unglaublich gut gelungen. Toll! Liebe Grüße

  10. Hihi Ariane, ich schreib gerade meine Hausarbeit fertig und lande auf den letzten Metern zufällig noch auf deinen Blog.. 🙂 Liebe Grüße!!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.