Die unheimliche Bibliothek

„Wohin gehen wir?“ – „In den Lesesaal. Du bist doch hier, um zu lesen, nicht wahr?“ Der Schafsmann ging mir voraus durch einen schmalen Korridor. Der Alte folgte uns. Das Kostüm, das der Schafsmann trug, hatte sogar einen kurzen Schwanz, der beim Gehen lebhaft hin und her pendelte. „Nun denn“, sagte der Schafsmann und blieb am Ende des Korridors stehen. „Wir sind da.“ – „Einen Moment bitte, Schafsmann“, sagte ich. „Ist das hier vielleicht ein Verlies?“ – „Ja, genau“, sagte der Schafsmann und nickte. „Natürlich“, fügte der Alte hinzu.

Ein Junge betritt die Bibliothek, denn er möchte sich ein Buch ausleihen. Immer schon ist er in die Bibliothek gegangen, wenn ihn etwas interessierte, und nun hat er sich eben die Frage gestellt, wie im Osmanischen Reich die Steuern eingetrieben wurden. Ein alter Mann sucht ihm die entsprechenden Bücher heraus, und da sie nicht ausgeliehen werden dürfen, führt er den Jungen zu einem Lesesaal, weit unter der Bibliothek, am Ende eines Labyrinthes an Gängen. Er wird dort eingesperrt und soll die drei Bücher auswendig lernen – damit ihm der alte Mann danach das Gehirn aussaugen kann. Belesene Gehirne sind nämlich besonders lecker.

Das Verlies ist jedoch ganz schön ungewöhnlich. Ein Schafsmann serviert nachmittags köstliche selbstgebackene Donuts, und dreimal am Tag wird Essen von einem wunderschönen stummen Mädchen gebracht. Trotzdem – der Junge plant den Ausbruch, und entdeckt, wie sich sein bisheriges Leben mit dem Einsperren in der Bibliothek zusammenführt.

„Kannst du nicht sprechen?“, fragte ich das Mädchen. „Nein, meine Stimmbänder wurden in meiner Kindheit zerstört.“ – „Deine Stimmbänder wurden zerstört? Aber von wem denn?“ Darauf gab sie mir keine Antwort. Sie lächelte nur so lieblich und süß, dass es mir den Atem nahm.

Alles in allem – ein wirrer Albtraum, aus dem es scheinbar kein entrinnen gibt. Warum, weshalb, wie – alles Fragen, auf die der Leser keine Antwort bekommt. Vor allem der Ausgang der Geschichte lässt einen unruhig, fast schon unzufrieden zurück. „Die unheimliche Bibliothek“* ist, wie viele von Murakamis Kurzgeschichten, kafkaesk, unheimlich und magisch. Und somit definitiv nichts für jeden. Wer nach obenstehendem Zitat jetzt noch darüber nachgrübelt, wie das Mädchen denn bitte sprechen kann, wenn es stumm ist, sollte von dieser Kurzgeschichte vielleicht besser die Finger lassen 😉 Ich jedenfalls war schwer beeindruckt, und habe das Buch in kürzester Zeit verschlungen. Trotzdem gibt es meiner Meinung nach bessere Kurzgeschichten von Haruki Murakami – ich hatte ja bereits meine liebsten vorgestellt.

Besonders toll sind selbstverständlich vor allem die Zeichnungen. Ich liebe schließlich ohnehin tolle Texte und Kurzgeschichten, und ich liebe schöne Illustrationen, und wenn beides auch noch toll zusammenpasst und sich zu einem faszinierenden Ganzen fügt: Wow! Von der selben Illustratorin kannte ich bereits eine andere Murakami-Geschichte, Schlaf. „Die unheimliche Bibliothek“ kommt zwar nicht ganz daran heran, ist aber ein wundervolles Buch, das sich in jedem Bücherregal schön macht, und das man immer mal wieder durchblättern kann. Eigentlich sollte jede Kurzgeschichte von Murakami so illustriert werden – ich würde wahrscheinlich jede einzelne davon kaufen. Generell – wenn ich solche Bücher lese, finde ich, es sollte viel mehr Bilderbücher für Erwachsene geben.

Die unheimliche Bibliothek
gibt’s beim Dumont Verlag für 14,99 €

* gesponsert vom Dumont Verlag

4 Gedanken zu “Die unheimliche Bibliothek”

  1. Hört sich trotzdem sehr interessant an – ich meine auch, dass ich schon Geschichten von ihm gelesen habe, aber ich komme nicht mehr darauf, auf welche.
    Jedenfalls verknüpft sich sein Name mit irgendetwas Positiviem in meinem Kopf, haha.
    Das klingt ein bisschen wirr, aber naja.

    Danke übrigens für deinen Kommentar, ich freue mich 🙂
    Deine Fragen lasse ich auf jeden Fall in das Making-Of einfließen – das übrigens morgen erscheint, weil ich bei einem Blogger-Adventskalender mitmache und etwas über Fotografie bloggen wollte 🙂

  2. Fällt genau in mein Interessengebiet: Murakami, mysteriöse Bibliothek und interessante Illustrationen. Wenn nur die Wunschliste an Büchern nicht schon so lang wäre…zumal ich die Kurzgeschichte ja schon kenne.
    Ich bin übrigens auch der Meinung, dass es viel mehr illustrierte Bücher für Erwachsene geben sollte. Kongeniale Bilder können einem Text noch mal so viel dazugeben!

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