Mein Herz schwankt

Ich habe kein Thermometer bei mir, aber ich bin mir sicher, das müssen mehr als 40 Grad sein. Daran, wann mir zuletzt so heiß war, kann ich mich nicht erinnern, Wasser in den Nacken, Hut auf, nichts scheint zu helfen. Die Sonne ist lebensfeindlich, gibt einem das Gefühl, in Flammen aufzugehen. Alles glüht, alles verschwimmt vor Hitze. Laufen, denken, atmen fällt schwer, alles passiert heute so viel langsamer als sonst. Selbst im Schatten tropft mir der Schweiß von der Stirn.

Der Sonnenuntergang taucht Lissabon in ein rosegoldenes Licht, das einem das Herz aufgehen lässt, entscheidet sich aber nicht dafür, die Temperaturen merklich zu reduzieren. Im Vergleich zu draußen ist es sogar in der U-Bahn angenehmer. „Wie schafft ihr das, hier zu leben?“ Noch kein Portugiese konnte mir diese Frage beantworten, vielleicht muss ich sie noch einmal stellen, wenn das Wetter freies Philosophieren wieder zulässt. Ich erinnere mich an meine letzte Reise nach Portugal, als mir die sanfte Fast-schon-am-Meer-Brise Lissabons nach Sevilla wie ein Kopfsprung ins kalte Wasser vorgekommen war. Ich bin wohl auch einfach nichts mehr gewohnt.

Die meisten Touristen lassen sich von der Hitze nicht abhalten, durchströmen die Straßen und Geschäfte der Innenstadt und wandern hinauf zur Burg. Ein merkwürdiges Gefühl, wieder hier zu sein, ganz alleine – und doch nicht frei. Denn in Lissabon bleibt mir nach einer Reise durch das Centro de Portugal nur dieser eine Abend, am nächsten Morgen geht der Flug zurück nach Deutschland. Verschieben geht nicht, der Lieblingsmensch hat Geburtstag. Und ich bin in dieser Stadt, die Teil meiner allerersten Reise ganz alleine war, vier Jahre ist das her, und die mir gleichzeitig fremd und vertraut vorkommt.

Ich brauche keine Karte, ich finde auch so die Plätze, an denen ich damals stundenlang sitzen und einfach dem Treiben zuschauen konnte, aber war dieses Bild damals auch schon an die Wand gemalt? Und ist das hier wirklich die Stelle, an der ich mein Lieblingsfoto geschossen habe? War es hier immer schon so voll und konnte man die Burg auch vor vier Jahren bereits nicht betreten, ohne Eintritt zu zahlen?

Damals hatte ich Zeit, viel Zeit, so viel Zeit, dass ich mich frage, ob mir nicht langweilig war. Bestimmt war mir das, aber gerade darauf hatte ich Lust, wenn ich mich richtig erinnere. Dem Lebensrhythmus angepasst, war ich zwischen Vormittag und Abend damit beschäftigt, im Schatten zu sitzen und zu lesen. Abwechselnd folgte ich der Lust darauf, alles an Trubel hinter mir zu lassen und die entlegensten Teile der Stadt zu besuchen, und dem Spaß daran, einfach mal Touristin zu sein.

Und natürlich hing ich damals, was für ein peinliches Statement, die ganze Zeit am Smartphone. Denn anderthalb Wochen vor dem Start meiner Reise hatte ich jemanden kennen gelernt, wegen dem ich am liebsten zu Hause geblieben wäre. Und jetzt, vier Jahre später? Jetzt nehme ich morgen den frühesten Flug, um bei ihm zu sein. Wieder haben wir uns knapp zwei Wochen nicht gesehen, aber mittlerweile schaffe ich es auch ohne einen kontinuierlichen WhatsApp-Strom, verschicke die letzte Nachricht aus der U-Bahn.

Ich laufe durch die flirrenden Straßen und suche nach den Orten, die in meinem Kopf gespeichert sind, nach den Fotos, die ich damals geschossen habe. In mir die pure Aufregung, ich freue mich wie ein Kind, wenn ich etwas wiedererkenne, ich hetze durch Gassen und über Plätze, weil sich der Abend immer mehr seinem Ende zuneigt. In mir ist so viel los, dass ich, einem plötzlichen Impuls folgend, immer dort abbiege, wo am wenigsten Menschen zu sehen sind.

Pure Ironie, dass ich mit dieser Strategie nach zwanzig Minuten mitten in einem Straßenfest in der Alfama ankomme. Portugiesische Schlager und Latino-Sommerhits schallen aus den großen Lautsprechern gegen die engstehenden Hausfassaden, es riecht nach Grillfleisch und Bier. Ich laufe weiter, verstecke mich hinter meiner Kamera. Ich gehöre heute nicht dazu und will das auch nicht versuchen, ich laufe heute nur vorbei, anstatt mittendrin zu sein, und das ist auch gerade alles, was ich emotional leisten kann.

Als ob Portugal nicht genug Melancholisches an sich hätte, ist Lissabon für mich auch ganz persönlich die Stadt der ungenutzten Chancen. Hier hatte ich schon meinen Erasmus-Platz für ein Sommersemester sicher, bevor mir schließlich eine Prüfung dazwischenkam und ich ihn leichten Herzens gegen viereinhalb Monate in Ecuador und Peru eintauschte. Vielleicht war das die absolut richtige Entscheidung, vielleicht hätte ich in Lissabon meine Bestimmung gefunden. „Was wäre, wenn“-Gedanken sind immer sinnlos, doch jetzt, wo ich wieder hier bin, kann ich sie nicht abstreifen.

Wie würden mir die Fassaden und Gassen, die Plätze und Straßen vorkommen, wenn ich hier gelebt hätte? Würden mir die Details, die Fliesen und Vogelkäfige, die Wäscheleinen und die hübschen Türen noch auffallen? Würde ich noch auffallen, als Touristin, als Fremde? Würde ich ganz entspannt über ein solches Fest wandeln und mich wie zu Hause fühlen? Würde ich die Sprache beherrschen, diese wunderschön fremd klingende Aneinanderreihung von Nasalen und Zischlauten?

Ich laufe über den Vorplatz einer kleinen Kirche, heraus aus dem Gassengewirr, und schaue über die Brüstung auf die Stadt. Und da ist er, auf einmal – der Regen. Dicke Tropfen fallen auf den grünblau gefliesten Boden, langsam, unregelmäßig, als würde sich der Himmel noch entscheiden, ob der Schauer so richtig losgehen oder gleich wieder aufhören soll. Ich muss fast darüber lachen, dass ich noch einen Schirm dabei habe, der steckt immer in meinem Rucksack und war noch nie so sinnlos wie die letzten Tage, auf einmal kann ich ihn gut brauchen. So ein bisschen Regen hält mich schließlich nicht davon ab, so viel wie irgendwie möglich zu sehen.

Ein sanftes Donnern verrät, dass es mit ein paar Tropfen vielleicht doch nicht getan ist. Das Unwetter hat den Sonnenuntergang verdunkelt und die Stadt in ein düsteres Blaugrau getaucht. Ich laufe weiter, während der Regen immer stärker wird.

Dann plötzlich – der Wolkenbruch. Entscheidung gefallen, Himmel geöffnet. Mein Schirm bringt mir wenig, denn die dicken Tropfen spritzen so stark vom Boden auf, dass ich innerhalb von Minuten von unten nass werde. Mein Rock klebt mir am Körper, mit meinen Sandalen rutsche ich über die nassen Pflastersteine. Eins jedoch bringt der Regen: Abkühlung. Mit jedem Tropfen, der auf meinen Schultern landet, sinkt gefühlt meine Körpertemperatur. Endlich kann ich wieder atmen.

Und dem Rest der Stadt geht es genauso. Köpfe strecken sich aus Fenstern und Türen, um dem Schauspiel beizuwohnen, Handys filmen die Sturzbäche, die inzwischen durch die Gassen rauschen. Einige der Festbesucher haben sich unter die großen Pavillons und Sonnenschirme gerettet, während andere noch lachend versuchen, sich und ihr Bier in Sicherheit zu bringen, feixend angefeuert vom Rest. Und ein paar, die tanzen tatsächlich im Regen, so klischeehaft das auch klingt, obwohl das laute Platschen die Melodien aus den Lautsprechern mittlerweile beinahe übertönt. Doch der Regen schafft seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Musik, und in diesem Moment, nach diesem Tag, sorgt die für mehr als ausgelassene Stimmung.

Ich habe keine Lust darauf, mich in eine der Bars zu retten, möchte nichts verpassen von den Straßen dieser Stadt. Stattdessen stelle ich mich in den Hauseingang einer kleinen Bäckerei, kaufe mir ein Brot mit Käse und schaue den Tropfen beim Fallen zu. „Das ist verrückt“, sagt der Verkäufer kopfschüttelnd. „So ein Wetter haben wir nie.“ Man sieht es den Menschen an, die wirken, als hätte sie der Regen von einer zehnjährigen Dürreperiode erlöst.

Dieser Moment ist so einzigartig, so besonders, so schön. Mir fehlen die Worte und gleichzeitig habe ich so viele im Kopf. Ich kann das nicht erzählen, nicht erklären, und alles, was mir fehlt, ist jemand, um diesen Augenblick zu teilen. Ob zum gemeinsamen Unterstellen oder zum Im-Regen-Tanzen, ganz egal.

Ich weiß, ich kann die Stimmung, die ich gerade empfinde, mein Herzklopfen, meine überschwängliche Melancholie, mein schweres Glück, nicht in Worte fassen, ich kann sie niemals wiederholen. Dieser Moment ist jetzt, er wird niemals wiederkommen, und er gehört nur mir allein. Wie schön das ist, und wie traurig gleichermaßen.

Mein Herz, es lacht und tanzt, es heult und schreit so etwas wie „Wie ungerecht!“ gegen den langsam verebbenden Regen an, es ist so voll, so voll von allem, so voller Sehnsucht und Liebe und Einsamkeit, dass es taumelt und schwankt und wie ich über den rutschigen Untergrund schlittert.

Das ist zu viel, ich fange an zu weinen, noch so ein Klischee, heulst du, oder ist das der Regen, ich schmecke das Salz auf den Lippen und bin inzwischen fähig, mich nicht dafür zu schämen, wie nah ich am Wasser gebaut bin. Heulst du vor Glück oder vor Trauer, frage ich mich, und weiß es nicht, wahrscheinlich, wie immer, vor Überforderung, weil mein kleines Herz das nicht schafft, so viel auf einmal zu empfinden, ohne irgendwas nach draußen zu pressen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich das vermisst habe, die Art und Weise, wie mich beim alleine Reisen nichts von meinen Gefühlen ablenken kann, wie sie mich übermannen und in die Knie zwingen, mich zum Nachdenken bringen und mich spüren lassen, wie viel sich eigentlich unter einer stillen Oberfläche verbirgt. Die kurzen Ausbrüche verfliegen, und trotzdem bleiben sie im Gepäck, als Erinnerung an einen Moment von Rohheit und Klarheit, einen Moment, in dem ich alleine war mit mir, auf offener Straße, einen Moment des Ausfechtens, einen Moment, in dem ich sein durfte, sein musste, wer ich bin.

Ich laufe weiter, der Regen hat aufgehört und mit einem Schlag ist die Hitze zurückgekehrt. Der Himmel ist ein Stück aufgerissen und färbt einzelne Hausdächer knallig gold. Ich wische mir die letzten Tränen aus dem Gesicht, kämpfe mich durch die Straßen, die mittlerweile wieder voller werden und verschicke eine melancholisch-kitschige Sprachnachricht.

Morgen um diese Zeit werde ich an einem See in Ostdeutschland sitzen, neben jemandem, den ich gerade noch vermisse, und das beruhigende Gefühl haben, nirgendwo anders sein zu wollen. Was für ein Leben, lächle ich in mich hinein. Beruhige mein Herz, atme tief durch. Und stelle fest, dass es da noch ein Gefühl gibt, das sich in der Magengrube anfühlt, als würden aufgewirbelte Schmetterlinge sich langsam wieder auf die schönsten Blüten sinken lassen: Dankbarkeit. Für mich selbst, für ihn, für uns. Für diese Stadt, für dieses Land, für diese Welt, die ich erkunden darf. Und dafür, dass auch ungenutzte Chancen meistens irgendwo eine Tür öffnen, wenn man nur offen dafür ist, sie zu finden.

8 Gedanken zu “Mein Herz schwankt”

  1. Was für ein stimmungsvoller Beitrag! Du hast den Spaziergang so atmosphärisch beschrieben, dass ich beim Lesen total versunken bin. Richtig, richtig gelungen! Großes Lob und tolle Gedanken!
    Liebe Grüße,
    Josephine

  2. Ein wirklich berührender und schöner Post! Manchmal muss man sich nur erinnern, dass die Chancen, die man vertan hat, eigentlich nur erlaubt haben, dass etwas anderes aber gleich Gutes passiert. Ich liebe, wie du mit den Worten umgehen kannst 🙂
    LG Kathi

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