Quito Altstadt

Die kleinen Dinge

Ich glaube, zwischen all den Neidisch-Mach-Fotos und abenteuerlichen Geschichten, zwischen den vielen neuen Facebook-Freunden und den Beweisen darüber, wie sehr man sich doch schon eingelebt hat, zwischen all dem fragt sich jeder, der für eine längere Zeit ins Ausland geht, an irgendeinem Punkt, warum er sich das eigentlich antut.

In Peru war dieser Punkt gekommen, als ich mir nach etwa fünf Monaten eine schlimme Mandelentzündung eingefangen hatte und meine Eltern verabschieden musste, die mich zwei Wochen lang besucht hatten. Damals war mein erster Wunsch, mit ihnen in den Flieger zu steigen. Weg von dem Stress und den Unannehmlichkeiten, weg von der langweiligen Arbeit und den komplizierten Freundschaften, wieder zurück in dieses grüne, saubere, leise und komfortable Deutschland, in dem einen einfach jeder versteht.

Nun, in Ecuador, habe ich diesen Punkt gleich bei meiner Ankunft erreicht. Anstatt gemeinsam mit anderen die ersten Tage lang zu Erkundungstouren zu starten und direkt Freunde zu finden, sitze ich in meinem Zimmer und gucke mir auf WhatsApp die Fotos von der Grillparty meiner Freunde an, zu Hause in Deutschland. Nach jetlagbedingten vier Stunden Schlaf verschwimmt alles vor meinen Augen.

In Laufweite meiner Wohnung liegen drei Einkaufszentren, ein Park, der wie die meisten Parks in Lateinamerika diesen Namen nicht verdient hat und eher „Grünstreifen“ heißen sollte, viele Büros und überteuerte Kaffee-Ketten. Kurz gefasst: Um in so einer Umgebung zu landen, hätte ich nicht nach Lateinamerika reisen müssen. Warum also tue ich mir das alles an, die Abschiedstränen, die Zeitverschiebung, warum lasse ich meine Wohnung und meine Freunde in Deutschland zurück, an die ich mich doch so wunderbar gewöhnt habe?

Eine gute Frage. Es ist nicht so, dass ich vor irgendetwas fliehen wollen würde. Mich selbst finden kann ich noch dazu genauso gut zu Hause. Abenteuer brauche ich nicht, und wenn, gibt es genug davon auch vor der Haustür. Wenn ich an die schönsten Dinge denke, die ich in meinem Leben habe, so haben sie nichts mit der Ferne zu tun, sondern finden sich direkt bei mir zu Hause, und, wenn ich es so recht überlege, was für ein irres Glück ist das?!

So kam ich also in Quito an und obwohl ich dort, selbstverständlich, schon viele schöne Momente erlebt habe, ging mir diese Frage nicht aus dem Kopf. Was tue ich hier? Was hat mich hierher getrieben?

Quito Altstadt

Letztes Wochenende bin ich dann in die Altstadt gefahren, alleine. Ich habe mich über die Frauen gewundert, die direkt an der Bushaltestelle unter bunten Sonnenschirmen mit uralten Singer-Nähmaschinen sitzen und Aufträge entgegennehmen. Ich habe mich ins Getümmel geworfen, den Straßenverkäufern beim Anpreisen ihrer Waren zugehört, mich die steilen Straßen hinaufgekämpft, mich kurz verirrt. Ich bin zwischen Kirchen und Museen entlanggelaufen und schließlich spuckte mich das Wirrwarr direkt auf der Plaza Grande aus, dem wichtigsten Platz in der Altstadt Quitos, gesäumt von Präsidentenpalast und Kathedrale. Auf den Stufen der Kathedrale war kaum noch Platz, Straßenverkäufer und Besucher hatten sie gleichsam eingenommen, zwei Männer saßen neben einem riesigen Lautsprecher, der blecherne kitschige Rhythmen über den Platz brüllte.

Auf einer langen Steinbank sitzen einige alte Leute, ruhig aufgereiht, regungslos bis auf die Handbewegung eines älteren Herrn, der den Tauben vor seinen Füßen in regelmäßigen Abständen Futter zuwirft. Ich setze mich dazu, ich möchte ebenso still hier alles auf mich wirken lassen, schwer ist das nicht, denn der Blick auf den Platz ist fast wie Kino. Obstverkäufer, Eishändler, Schuhputzer kommen vorbei, junge Leute lachen zusammen, Kinder betteln bei ihren Eltern nach Eis oder wenigstens einem Luftballon, Touristengruppen überqueren den Platz wie eine Herde scheuer Rehe.

Ein paar Männer kommen vorbei und machen eine Bemerkung über mich und meine Hautfarbe, klopfen sich dabei lachend gegenseitig auf die Schulter. Mein Blick trifft den der alten Dame, die neben mir sitzt, ganz in lila gekleidet, ein Gesicht, das von einem oft entbehrungsreichen Leben spricht. Sie schüttelt langsam den Kopf und verdreht stumm die Augen. Fast muss ich darüber lachen, es spricht so viel Weisheit daraus, es ist die perfekte Mimik für „Lass sie reden!“. Ob die Frau wohl in ihrem Leben wohl oft die Worte anderer verdauen musste, sei es aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts?

Ich möchte weiter, mich wieder ins Getümmel werfen, doch vorher bitte ich sie noch um ein Foto. Sie winkt ab und schüttelt den Kopf, doch als ich ihr erkläre, wie hübsch sie aussieht, hier auf diesem Platz, vor diesem Hintergrund, setzt sie sich in Szene und nimmt schüchtern ihren Hut ab. Zu einem Lächeln hat es für das Foto nicht ganz gereicht, doch das kommt, als ich ihr die Bilder zeige. „Qué dios te bendiga“, sagt sie mir zum Abschied, möge Gott dich segnen.

Quito Altstadt

Kaum bin ich um die Ecke in die nächste Straße eingebogen, spricht mich ein junger Mann in Militäruniform an. Ob ich hier Urlaub machen würde, will er wissen, und als ich verneine, ist er fast enttäuscht. Ich versichere ihm, dass ich mir trotzdem gerade das Stadtzentrum ansehe, ganz touristisch, und er ist sofort Feuer und Flamme. Ob er mich fotografieren solle, ob ich dieses und jenes schon gesehen hätte, und ja, hier in der Altstadt muss man vorsichtig sein. Zehn Sicherheitstipps und fünf ausgeschlagene Foto-Angebote später darf ich weiterlaufen. Ich stöbere durch Buchläden, die gleichzeitig Treffpunkt für Jung und Alt sind, bestaune die hübschen Balkone und vor allem die phänomenalen Innenhöfe der Kolonialhäuser, verliere mich im Blick auf den Hügel Panecillo und die umliegenden Berge. Schnaufend steige ich zur Kathedrale und blicke auf Quito hinunter. Als ich Hunger habe, suche ich lange nach einem Restaurant und lande schließlich in einem orangefarbenen Innenhof, in dem auf meine Frage, was es denn zum Mittagessen gibt, tatsächlich der Koch aus der Küche geholt wird und mir alles ausführlich erklärt.

Ich weiß nicht, ob es schon auf der Plaza Grande passiert ist oder erst später, aber irgendwann kam mir die Erkenntnis: Es gibt nicht den einen Grund. Es sind die kleinen Dinge.

Es ist die Tatsache, dass ich mit meinem Interesse für lateinamerikanische Politik und die Rechte der Indigenen hier keine Exotin bin, dass ich jeden Tag etwas Neues lerne und vor allem ganz neue Perspektiven erhalte. Es ist die Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit der Menschen, ihre Hilfsbereitschaft und ihre Begeisterung darüber, dass ich ihre Sprache spreche, einigermaßen zumindest. Es ist das Absurde, das einem hier begegnet, zum Beispiel in Form des Nachbarn, der unten an der Straße Bücher aus dem Kofferraum seines Autos verkauft, und der kreative Umgang mit dem, was im Leben so kommt, in Form meiner Mitbewohnerin, die mir, als wegen des Erdbebens die Müllabfuhr nicht kam, empfahl, den Biomüll doch einfach in den Gefrierschrank zu legen. Es sind die Überraschungen des Alltags und die Naivität, die ich mir hier versuche zu behalten, die ständigen Fragen nach dem „Wie funktioniert das?“ und „Was ist das?“, mit kindlich ausgestreckten Zeigefinger, die mir hier nicht peinlich sein müssen, die Erinnerung daran, wie spannend diese Welt eigentlich ist.

Ich bin angekommen, glaube ich. Ich weiß, warum ich hier bin: Es sind die kleinen Dinge.

Quito Altstadt

Wie du vermutlich mitbekommen hast, wurde die Küste Ecuadors letztes Wochenende von einem schlimmen Erdbeben erschüttert. Ganze Städte wurden verwüstet, zehntausende Menschen sind obdachlos, es fehlt an den alltäglichen Dingen wie Toilettenpapier und Trinkwasser. Da auch Tourismus, Handel und Industrie betroffen sind, wird es Jahre dauern, alles wieder aufzubauen.

Wie du am besten helfen kannst? Indem du deine Reise nach Ecuador, falls du eine geplant hast, nicht absagst. Berge und Regenwald sind nicht vom Erdbeben betroffen, das Leben läuft hier, abgesehen von der riesigen Spendenbereitschaft und den entsprechenden Bergen an Trinkwasser und Konserven, die sich vor Regierungsgebäuden und in Supermärkten auftürmen, weiter wie bisher. Auch die Hafenstadt Guayaquil und die südliche Küste rund um Montañita und Salinas kann man noch besuchen, genauso wie natürlich Galápagos. Der Tourismus ist für Ecuador eine der wichtigsten Einnahmequellen und ich mag mir nicht vorstellen, was passiert, wenn diese neben der momentanen Wirtschaftskrise und dem Erdbeben nun auch noch wegfällt. Mehr Informationen dazu, inwiefern touristische Regionen betroffen sind und warum du Ecuador gerade jetzt besuchen solltest, findest du übrigens hier (auf Englisch) und hier (auf Spanisch).

Falls du grundsätzliche Angst vor einem Erdbeben hast, dann tut es mir leid, dir das sagen zu müssen, aber dann kannst du einen großen Teil der Welt nicht bereisen. Island, Türkei, Portugal, Japan, Italien, Indien, China, Japan, Neuseeland, die Westküste der USA, Alaska, Mexiko, Chile – all diese Länder und viele weitere sind sozusagen Erdbeben-Risikozonen, und selbst in Deutschland gibt es Gegenden, in denen die Erde auch mal wackeln kann. Dennoch sind wirklich starke Erschütterungen selbstverständlich selten – ein so starkes Erdbeben hat es in Ecuador zum Beispiel zuletzt 1979 gegeben.

Lass dir einen Besuch in diesem wunderschönen Land mit seinen vielen Facetten nicht entgehen! Gerade durch einen Besuch kannst du den Opfern des Erdbebens und den Aufbauarbeiten finanziell helfen. Ich hoffe, ich kann dir mit meinem Blog ein bisschen Lust auf Ecuador und vor allem die Hauptstadt Quito machen. Fotos und kleine Berichte aus meinem Alltag gibt’s übrigens auf Instagram und Facebook!

21 Gedanken zu “Die kleinen Dinge”

  1. Ein wunderbarer Artikel. Die Situation mit der Dame, die du fotografiert hast, hat mir Tränen in die Augen getrieben. Du hast recht – es sind die kleinen Dinge. Danke, dass du mich daran erinnert hast. 🙂

  2. Ein wundervoller Artikel! Und so lebhaft geschrieben, dass man sich direkt ein bisschen mittendrin im Geschehen fühlt – danke dafür! Ich finde, du hast recht. Oft sind es wohl wirklich einfach die kleinen Dinge, die uns dazu bringen, unser Herz an Orte, Dinge, Menschen etc. zu hängen. Aber dabei ist es auch wirklich eine Kunst, diese kleinen Dinge zu erkennen und wertzuschätzen. So wie das Erlebnis mit der Dame in Lila :).

  3. Deine Gedanken zu den kleinen Dingen sind wundervoll! Und auch wie du erzählst, wie du die Antwort auf deine Frage gefunden hast, war einfach super zu lesen. Danke!
    Und ich finde es klasse, dass du darauf hinweist, wie wichtig Tourismus ist. Das werde ich mir für die Zukunft merken und vielleicht eher mal Länder bereisen, die gerade als Reiseziel wegen irgendwelchen Vorkommnissen (Umweltkatastrophe, Politik) unbeliebt sind.
    Liebe Grüße

    1. Vielen Dank! 🙂 Ja, beim Thema Tourismus kommt es natürlich immer drauf an, wo und wie man reist. Eine Reise in ein Katastrophen- oder Kriegsgebiet ist natürlich wenig hilfreich, und auch, wenn man mit dem Geld, was man ausgibt, ein diktatorisches Regime unterstützt, ist das so eine Sache – zB. bei Reisen nach Nordkorea. Aber in Ecuador kann der Tourismus wirklich viel bewirken und das Land aus der momentanen Krise holen 🙂

  4. Ein toller Beitrag und so schön, wie du von diesen kleinen Dingen erzählst! Ich stelle es mir schon schwierig vor, längere Zeit ganz alleine im Ausland zu leben und bekomme schon Heimweh, wenn ich nur daran denke. Ich bewundere jeden, der den Mut dazu hat.

    1. Vielen Dank! 🙂 Ach, ja, es ist so eine Sache – ist man daheim, hat man Fernweh, ist man in der Ferne, hat man Heimweh. Aber wäre ja auch schlimm, wenn man kein Heimweh hätte!

  5. Liebe Ariane,

    was ein schöner und vor allem persönlicher Text. Danke, dass du uns an deinen Gedanken teilhaben lässt. Es freut mich vor allem, dass du dich langsam einlebst. Ich wünsche dir eine spannende Zeit und viele interessante Begegnungen.

    Viele Grüße,
    Tanja

  6. Ich finde es schön zu hören, dass es manchen auch direkt am Anfang so geht. Man schwebt im Ausland nicht immer die ersten zwei Wochen nur auf Wolken, manchmal kommt der Kulturschock auch sofort. Ich hoffe, dass du dich mittlerweile etwas eingelebt hast. Deine Botschaft am Ende finde ich ganz besonders wichtig! Ecuador braucht Touristen, genauso wie Ägypten sie nach dem arabischen Frühling gebraucht hätte, die Türkei besonders in der kommenden Saison unter den jüngsten Terroranschlägen leiden wird und und und… Ich habe zwar leider nicht vor, in nächster Zeit nach Ecuador zu fliegen, aber wenn ich es dann doch mal tuen sollte, denke ich an deine Worte! 🙂
    Ich wünsche dir noch viel Freude in Quito!
    Liebe Grüße,
    Malika

  7. Sehr schöner Beitrag. Es gibt nicht soo viele Reiseblogger, die tatsächlich schreiben können! Eine Erkenntnis, die viel mit dem Reisen und den kleinen Dingen zutun hat: Man muss offen sein und Augen haben, zu schauen. Neugierig sein. Dinge in Frage stellen. Mit den Leuten quatschen. Aber das kann halt auch nicht jeder…

    1. Vielen Dank! 🙂 Ja, ich bemühe mich sehr – aber leider gehen solche Dinge vor allem im Alltag oft unter. Man muss sich Zeit dafür nehmen.

  8. Hey, das hast du wirklich schön beschrieben. Ich hab mich das tatsächlich auch während meinem Auslandsjahr hier in Spanien gefragt. Was das alles soll. Irgendwann hat die Antwort „Du willst die Sprache und Kultur kennenlernen“ einfach nicht mehr gereicht, weil ich so genervt von allem war und nur noch heimwollte. Und dann kam ein Nachmittag, an dem einfach alles schief ging, was schiefgehen konnte und wir nur noch gelacht haben und die Sonne genossen. Ja, es sind wirklich die kleinen Dinge, für die sich all das lohnt. Und das wir natürlich lernen, überhaupt erst auf diese kleinen Dinge zu achten. Vor meinem ersten Alleingang ins Ausland hatte ich dafür einfach noch gar keine Augen.
    Mach weiter so! Ich freue mich mehr über Ecuador zu hören. Nur weck mir bitte das Fernweh nicht, ich will eigentlich mal wieder heim 😉

    1. Da hast du sehr recht – dass man überhaupt lernt, auf die kleinen Dinge zu achten und sie zu schätzen, dafür lohnt es sich 🙂 Vielen Dank, aber das mit dem Fernweh kann ich nicht versprechen 😀

  9. Wunderbare Worte, Ariane! Du lässt die Szenen so lebendig werden, man hat wirklich das Gefühl, mit dabei zu sein. Und ja, man darf sich von solchen Naturkatastrophen nicht verängstigen lassen; selbst in Deutschland kann es Erdbeben geben, es kann überall immer irgendwas passieren. Aber natürlich ist es schrecklich, w as in Ecuador passiert ist.

    Lieeb Grüße aus Hamburg!
    Petra <3

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