Chronik einer Nacht

22:00 Ich sitze mit einer heißen Tasse Glühwein auf dem Sofa. So langsam sind alle eingetrudelt und eine Mädelsrunde sitzt in meinem Wohnzimmer, um eine große Schale Chips herum, alle schick angezogen. Erwartungen auf das, was kommt, mischen sich mit einer großen Portion Gemütlichkeit, mit Kerzen und gedämpftem Licht, mit dem Duft nach Nelken und Zimt. Um halb zwölf bin ich selbst überrascht, dass wir uns auf den Weg machen – viel zu oft bleiben wir an solchen Abenden dann einfach zu Hause, trinken noch eine Tasse, quatschen bis zum Umfallen, gehen irgendwann spät nach Hause, aber bestimmt nicht mehr tanzen. Und auch, wenn das genauso schön ist, manchmal muss man sich einfach mal unter andere Menschen mischen…

0:00 „Du siehst mich später. Ich sehe dann eher nichts mehr“, bekomme ich bei brummender Musik ins Ohr gebrüllt. Nun ja, ist auf jeden Fall ein Plan, denke ich, und sehe zu, wie er bei einem Absinth direkt in die Tat umgesetzt wird. Es wird langsam voller, die Party hat, auch, wenn sie es offiziell nicht ist, den Anschein einer Semesteranfangsfeier meines Studiengangs – überall Menschen, die ich kenne, überall tauscht man sich aus, wie die Hausarbeitsnoten ausgefallen sind, welche Kurse nächstes Semester belegt werden, gleichzeitig verdreht ständig jemand die Augen: „Aber lass uns doch jetzt nicht über die Uni reden…“


3:30 Langsam kann ich nicht mehr stehen. Mein linker Schuh löst sich auf, zu viel getanzt. Drinnen wird es allmählich leerer, und auch die Konstellation der Leute, mit denen ich unterwegs bin, hat sich geändert. Wir brechen auf, wollen noch etwas trinken gehen. Dummerweise stellt sich heraus, dass die Bar unseres Vertrauens ernst macht mit der Regel, nach drei Uhr früh niemand Neuen mehr hineinzulassen. So sitzen wir erst mal auf dem Platz davor, ohne großen Plan, und kommen mit ein paar anderen Leuten, die in der selben Situation sind, ins Gespräch. In einer Wohnung gegenüber sind alle Fenster offen, Musik schallt über den gesamten Platz.

4:00 Ich sitze in einer unbekannten Ein-Zimmer-Wohnung auf den Boden, eine Plastikflasche Bier in der Hand. Um mich herum meine Freunde, die Leute von vor der Bar und M., dem die Wohnung gehört. Wir haben im ganzen Haus Sturm geklingelt, dachten aufgrund der lauten Musik, es gäbe eine WG-Feier, auf der wir spontan vorbeikommen könnten. Dann öffnete uns ein Kerl, der ein bisschen aussieht wie Ted aus How I Met Your Mother und sich als M. vorstellt – und uns spontan einlädt, drinnen mit ihm ein Bier zu trinken. Warum er auf die Idee kommt, um vier Uhr nachts halb Jena zu beschallen, frage ich mich, und bekomme mit, dass er und seine Freundin sich gerade getrennt haben. Jetzt sitzen wir hier, sieben Menschen, die der Zufall zusammengebracht hat, trinken und rauchen gemeinsam und unterhalten uns über alles Mögliche. „Was ist der Sinn des Lebens?“, fragt A. „Glücklich zu sein“, antwortet M. mit einem weisen Lächeln auf den Lippen. „Und was ist dann Glück?“, frage ich in die Runde. M. zuckt mit den Schultern und steht auf, um ein bisschen durch die Wohnung zu tanzen.

4:30 Plötzlich steht ein rundlicher Polizist in der Tür. Er ist sichtbar perplex, als er trotz der enormen Lautstärke nur eine Handvoll Leute vorfindet, die auf dem Teppich sitzen. „Ich versteh ja, dass man die Musik laut aufdrehen möchte“, sagt er und nimmt M. das Bier aus der Hand. „Aber mir ist einfach nicht begreiflich, warum man dann die Fenster so weit aufreißen muss.“ Wir machen sie wieder zu, verabschieden uns von M. und verschwinden nach draußen. Keine fünf Meter weiter spricht uns ein junger Kerl an, lallend, Ersemester BWL.

5:00 Der Kerl, der sich als J. vorstellt, wohnt direkt um die Ecke, seine Wohnung hat einen fantastischen Wintergarten als Wohnzimmer. Ich fühle mich ein bisschen wie auf Besichtigungstour, wir schmeißen das Radio an, es ist Punkt fünf Uhr früh. J. erzählt Geschichten vom Oktoberfest. Ich überlege mir, wie es für ihn sein muss, am nächsten Tag aufzuwachen. Wird ihm alles wie ein merkwürdiger Traum vorkommen, wird er sich fragen, ob er wirklich wildfremde Leute spontan zu sich eingeladen hat? Wenn er es seinen Freunden erzählt, werden sie ihn für verrückt erklären?

Eine halbe Stunde später liege ich im Bett und bin dankbar, dass es auf der Welt so viele Verrückte gibt. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum ich diesen Post schreibe – ich möchte all den Menschen danken, die offen, laut, verrückt, aufgeschlossen und lustig sind, all den Menschen, die mich spontan ansprechen und spannende Unterhaltungen anfangen, all den Menschen, die ich kaum kenne und von denen ich trotzdem zu WG-Feiern eingeladen werde, all den Menschen, die tanzen, als würde keiner zusehen, all den Menschen, die ich wahrscheinlich nie wieder sehen werde, mit denen ich aber nachts gemeinsam unterwegs war, gemeinsam gelacht habe, den Sinn des Lebens diskutiert habe. Das Leben ist sehr viel schöner mit euch, die ihr nicht fragt „warum“, sondern einfach macht, wonach euch der Sinn steht, die ihr euch nicht darum kümmert, was die anderen denken könnten. Danke euch dafür!

26 Gedanken zu “Chronik einer Nacht”

  1. klingt wirklich toll! und bei dem "all den Menschen, die ich wahrscheinlich nie wieder sehen werde" ist mir der gedanke gekommen: ich glaube, solche begegnungen bedeuten viel mehr, wenn man sich nie wieder sieht, als wenn man sich anschließend bei facebook adden würde, quasi nie schreiben würde, aber doch irgendwann merkt, dass der-/diejenige doch gar nich so richtig toll ist, wie er/sie in der nacht rüberkam.

    1. Ja, das glaube ich auch! Darüber habe ich am Ende der Nacht auch nachdenken müssen 🙂 Oft war der Moment zwar spannend und super, aber so gut, dass Freundschaften entstehen könnten, passt man trotzdem nicht zusammen. Und so werden solche Bekanntschaften, wenn man in Kontakt bleibt, auch oft so ein bisschen peinlich oder merkwürdig 😉 Aber mal sehen, ob es wirklich ein "nie wieder" ist – in einer kleinen Stadt wie Jena läuft man sich ständig über den Weg.

    1. Hehe, ich muss ja ehrlich sagen, bei mir war das letzte Mal feiern auch schon recht lange her. Aber irgendwie lässt es sich auch schlecht beeinflussen, ob eine Nacht okay oder genial wird – vielleicht auch umso besser, denn so bleiben Nächte wie diese besonders und magisch 🙂

  2. Was für ein toller Post <3 ich wünsche mir, dass es mehr solcher Leute geben würde. Verrückt und offen. Die meisten sind eben so verschlossen und distanziert. Ich kann mir vorstellen, dass es eine richtig richtig gute Nacht war.

  3. Und das in Jena! Da kann ich ja gespannt sein… 🙂 Ich wurde auch in meiner ersten Nachfahrt mit der Straßenbahn von einem so netten Menschen angesprochen und plötzlich haben wir über Gott und die Welt geredet. Ein Hoch auf diese offeneherzigen Menschen! 🙂

  4. Da könnte Jena glatt Landau sein. Vor ca 8 Jahren bzw auch noch vor 5 oder 6 hätte ich das genau so auch bloggen können. Wie unglaublich lange das bei mir schon her ist, das Studentenleben und alles, was so dazu gehört. Gerade komme ich mir wirklich alt vor..
    In Landau ist uns das auch das ein oder andere Mal passiert. Und auch wenn es schon einige Jahre her ist, diese Nächte haben sich mir irgendwie in den Kopf gebrannt, denn auch wenn da keine Freundschaften entstanden sind, irgendwie waren sie doch besonders. In Landau ist man sich dann zwar doch noch das ein oder andere Mal über den Weg gelaufen, aber über diese Abende und Nächte wurde nie geredet- was gut so war.

    Danke dir für die Erinnerung an solch wundervolle Nächte. Davon sollte es viel mehr geben.

  5. ""Und was ist dann Glück?", frage ich in die Runde. M. zuckt mit den Schultern und steht auf, um ein bisschen durch die Wohnung zu tanzen."
    Ach Mensch, herrlich! Toll, wenn die Weggeh-Nacht so chaotische und spontane Wendungen nimmt! Wir haben mal (eigentlich auf dem Heimweg) einen Typen aufgegabelt, der 100%ig so aussah wie Matthias Schweighöfer, sond dann in der WG einer Freundin gelandet mit Frikadellen, South Park und einer spontanen Glitzermaniküre. War herrlich.
    Jena scheint wirklich ein schönes Fleckchen für Studierende zu sein.

    1. Oh, das klingt auch ganz wunderbar 🙂 Ja, Jena ist klasse! Wobei ich glaube, dass man solche Geschichten wohl überall erleben kann. Als ich letztes Jahr in Passau war, wurde mir zum Beispiel nachts auf der Straße spontan ein Ständchen gesungen und dann standen wir da in der Runde singend auf dem Bürgersteig, bis die Polizei kam 😉

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