Zwischengedanken: Ich bleib dann mal hier.

Was war das nur für ein Gefühl, damals, vor drei Jahren, als ich am Ende meiner Schulzeit stand und eigentlich nichts anderes wollte als – weg. Meine Mitschülerinnen hielten sich zur Zeugnisverleihung an den Händen und heulten sich die Augen aus, mich befiel ein breites Strahlegrinsen. Endlich keine Schule mehr, endlich Zeit für das, was im Leben wirklich zählt, endlich erwachsen, endlich raus, endlich ab und davon. Schon lange vorher hatte ich mein Auslandsjahr organisiert, etwas, das mir so wichtig war wie vorher nichts, und auch, wenn ich Bedenken hatte, wurden die meist recht schnell von Vorfreude überlagert. Ich konnte mir nichts schöneres vorstellen, als die Welt zu erkunden, neue Menschen kennen zu lernen, Dinge zu erleben statt nachzulesen. Und reich an Erfahrungen, völlig verändert, zurückzukommen.

All das habe ich getan, ich fand es toll und es hat mich geprägt. Dann zog ich von der riesigen „Krake am Pazifik“ Lima in eine Stadt in der Mitte Deutschlands, die sich fast schon unerhörterweise Großstadt schimpft und eigentlich jedem Anreiz entbehrt, sie zu bereisen. Und hab mich noch nie irgendwo wohler gefühlt.

Lateinamerika ist immer noch der Kontinent meiner Sehnsucht. Ich träume von rappelnden Combi-Fahrten durch staubige Großstädte, atemberaubenden Blicken über Urwaldweiten, spannenden Begegnungen und mystischen Momenten. Ich finde die politischen Entwicklungen auf dem Kontinent unglaublich spannend, auch, weil ich sie in Kontext zu selbst Erlebtem setzen kann, und meine Freunde sind wohl dezent genervt, weil ich so viel darüber spreche. Ich lese viel, lerne über das Weltbild der Inka und darüber, warum die lateinamerikanische Politik des 20. Jahrhunderts so von Diktaturen und Umbrüchen geprägt war, mache mir Gedanken über Entwicklungschancen und Rassismus und beschäftige mich auch im Rahmen meines Studiums mit Lateinamerika, wann immer es geht. Ich weiß, ich möchte mich später auch einmal beruflich auf den Kontinent spezialisieren, möchte am liebsten indigene Sprachen lernen und oft in verschiedene Länder reisen.

Selbstverständlich ist Lateinamerika auch nicht der einzige Ort dieser Welt, den ich spannend finde. Fernweh als Gefühl ist mir nicht fremd, und ich möchte mehr sehen und erleben. Den Osten Europas, beispielsweise, mehr vom Süden Spaniens und von Portugal, vielleicht auch Nordeuropa, und definitiv möchte ich mal nach Asien, den Himalaya sehen und durchs farbenfrohe Indien reisen.

Jetzt ist die Zeit gekommen, an der meine Kommilitoninnen und Kommilitonen ihre Erasmusaufenthalte und Auslandspraktika planen, teils mit dem Wunsch, ein bestimmtes Land kennen zu lernen, teils mit dem Gedanken „Hauptsache weg“. Und ich? Ich bleib dann mal hier. Ich weiß, ich könnte mich für ein oder zwei Erasmussemester bewerben. Ich weiß, dass das Soziologie-Institut einen Direktaustausch mit Chile und Argentinien anbietet. Ich weiß, mit ein bisschen Anstrengung könnte ich auch auf zwei oder drei Monate Praktikum in Lateinamerika sparen. In den letzten Wochen musste ich mich gefühlt fünf mal täglich rechtfertigen. „Wie, du gehst nicht ins Ausland? Du willst dich noch nicht mal bewerben?“

Die Aussicht, für ein halbes oder gar ein ganzes Jahr woanders zu sein, erscheint mir schrecklich. Zwei oder drei Monate wären noch okay, aber ich habe keine Lust, die Anstrengung dafür aufzubringen. Manchmal erkenne ich mich selbst nicht wieder. Und frage mich, was mit mir los ist. Motivationslosigkeit kann es nicht sein – schließlich schrieb ich in den letzten Tagen massenhaft Bewerbungen für Praktika. In Deutschland. Genauso wenig fehlt mir das Fernweh oder die Lust aufs Entdecken. Vielleicht bin ich ein bisschen bequemlicher geworden, kenne auch die negativen Seiten daran, tausende Kilometer von daheim weg zu sein. Und vielleicht kommt auch die Liebe dazu, die einen Abschied doch sehr schmerzlich machen würde…

Aber der eigentliche Grund ist, dass es mir ganz einfach gut geht, hier und jetzt. So gut, dass ich es bedenklich finde, wie schnell die Zeit rast, und dass ich in zwei Jahren schon mit meinem Studium fertig sein werde. Und dann auch noch ein Jahr woanders hin? Ein Jahr dieser tollen Zeit verpassen? Auf keinen Fall. Ich bleib dann mal hier. Und das ist gut so.

8 Gedanken zu “Zwischengedanken: Ich bleib dann mal hier.”

  1. Witzig, bei mir ist es genau andersherum: Hätte ich mich nicht über beide Ohren verliebt, wäre ich niemals aus Hamburg weggegangen (ich sag nur: "Hamburg, meine Perle!"). Auch Fernreisen waren lange Zeit nicht meine Welt… und jetzt kann ich seit einigen Jahren nicht genug "Welt" bekommen. Und das liegt nicht daran, daß ich in meinem Leben unglücklich wäre – im Gegenteil. Ich denke, jeder tickt da nch seiner eigenen Uhr… schön, daß man sich immer mal wieder verändert. Hauptsache glücklich! herz-lichst soulsister

  2. Oh ja, das Studium geht raaaasend schnell vorbei! Genieße die Zeit und mache das, was DU machen willst. Hört sich auf jeden Fall super an, das, was du in Jena hast 🙂
    Liebste Grüße 🙂

  3. Ich finde es toll, dass du so eindeutig spürst, was du willst – und was eben momentan nicht. Dass du dir nichts einredest und eben auf etwas anderes hinarbeitest, auf das du wirklich Lust hast. Manchmal verliert man vor lauter "ich sollte wohl wollen" das Ohr für seine wirklichen Wünsche. Schön, dass es dir anscheinend momentan nicht so geht 🙂

  4. Du sprichst mir aus der Seele! Früher wollte ich auch immer weg und um die Welt, aber irgendwie bin ich viel ruhiger geworden. Ich genieße meine Studium so, dass ich auch absolut nichts davon verpassen will.
    Da verbringe ich lieber lange Wochenenden in schöne Städten mit meinem Freund, als mich gleich für ein halbes Jahr verabschieden zu müssen. Aber ich habe mir fest vorgenommen, das Praktikum das in meinem Studium vorgesehen ist im Ausland zu absolvieren, 3 Monate müssen drin sein!

    Alles Liebe, toller Post!!

  5. Ein wundervoller Text. Im Moment sitze ich hier in den USA, über 5000 km von zu Hause entfernt. Man macht tolle Erfahrungen, aber eben auch unschöne und oft frage ich mich wie es gewesen wäre, hätte ich das Ganze nicht durchgezogen. Bisher wollte ich immer weg – ob ins Ausland oder wieder nach Hause – und jetzt wünsche ich mir nichts mehr als das Gefühl, das du gerade verspürst: Zufriedenheit, genau da, wo du bist.
    Ganz liebe Grüße!

    PS: Deine Posts machen Mut und Lust aufs Leben – vielen Dank dafür. Mach weiter so! 🙂

  6. Hm, irgendwie sprichst du mir ein bisschen aus der Seele.
    Reisen, ja, immer gern, aber nochmal länger im Ausland leben?
    Vorerst lieber nicht!
    (Fast) Alle meine Freunden wollen jetzt nach dem Abi erstmal weg, ich gehe höchstens weg zum Studieren.
    Und schon da fällt es mir schwer, daran zu denken, 3 oder mehr Stunden weg von meiner Heimat zu studieren 😀

  7. Manchmal muss man einfach im Hier und Jetzt sein. Ich denke, es ist mehr als richtig, sich für das zu entscheiden, was einem gerade am meisten taugt. Also bleib' dir selbst treu & tu' das, worauf du Lust hast. 🙂

    Sorry, bin gerade nicht so aktiv mit Bloggen & Kommentieren, zu viel Stress 😉 danke noch für deinen Kommentar zu den Bodensee-Bildern 🙂

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