Tempel China

China, deine Tempel

Wer von einer Reise zurückkehrt, sagt gern: Es war wie in einer anderen Welt.

Nie kam mir das so berechtigt vor wie in China. Die für Uneingeweihte völlig unverständliche Schrift, bei der es auch für das Lesen von Ortsnamen nicht damit getan ist, ein paar Buchstaben zu erlernen. Das auf den ersten Blick so homogene Bevölkerungsbild, das sich so deutlich von mir unterscheidet, dass ich nicht einmal die geringste Chance habe, nicht sofort als Ausländerin aufzufallen. Und die völlig anderen kulturellen Codes, Symbole und Philosophien.

Wer als Ausländerin nach China kommt, muss notgedrungen seinen Horizont erweitern und feststellen, dass die vermeintlich selben Begriffe hier ganz andere Dinge meinen. Es gibt eine andere Vorstellung von Dimensionen und Größen, von Nation und Nationalität, von Politik und Demokratie – und eben auch von Religion und Philosophie.

Schnell wird klar: Mit europäischen Begriffen und Konzepten kommt man bei Chinas Religionen nicht weit. Wir stellen unserem Reiseleiter die Gretchenfrage: Was bist du? Unterschwellig klingt die Entscheidung mit: Bist du Daoist oder Buddhist, Atheist oder doch etwas ganz anderes? Die Antwort greift ganz andere Worte auf: „Ich kenne Buddhismus und Konfuzianismus.“

Tempel China

Chinas Religionen

Religionen schließen sich in China nicht aus, denn keine von ihnen meint, die absolute Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Die Wahrheit, die Ordnung der Dinge, all das ist einzelnen Religionen, Weltanschauungen und Philosophien übergeordnet. Alle Religionen und alle Götter sind einem höheren Prinzip unterworfen, welches anonym ist, dem Dao oder, im Buddhismus, Dharma, und alle Religionen stellen letztendlich unterschiedliche Teile dieser universalen Wahrheit dar.

Noch dazu: Wo es schon eine Vielzahl an Buddhas gibt, fallen ein paar mehr daoistische Götter nicht ins Gewicht. Das Nebeneinander von Religionen hat in China eine lange Tradition: Schon im achten Jahrhundert malte man Konfuzius, Buddha und Laotse, einen der Väter des Daoismus, auf bildlichen Darstellungen einträchtig nebeneinander.

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Auch optisch ist es für Laien fast unmöglich, daoistische und buddhistische Tempel auseinanderzuhalten. Rote Bänder Daoismus, Buddhafiguren Buddhismus, lernen wir, und doch muss ich bald feststellen, dass diese Faustregel Blödsinn ist. Wer das möchte, bindet auch an einen Baum im Hof eines buddhistischen Tempels ein rotes Band, und auch in daoistischen Tempeln wachen kleine Buddha-Figuren über die geäußerten Wünsche. Was mir, geprägt vom „Entweder-Oder“ der monotheistischen Religionen, wo man als protestantische Christin in der katholischen Messe nicht einmal das Abendmahl empfangen darf, wie Frevel vorkommt, ist hier ganz normal.

Dabei darf man nicht denken, dass die chinesischen religiösen Strömungen ohnehin alle mehr oder weniger gleich wären, Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus unterscheiden sich stark und sind jeder für sich irrsinnig komplex – vor allem für „Westler“, die in der Beschäftigung mit Religion die für China völlig falschen Fragen stellen. Eine Reise nach China zeigt einem, wie eingeschränkt man in seinem Denken ist, wie sehr vieles, was man für normal und universell hält, in anderen Teilen der Welt ganz anders gesehen wird. Man begreift letztendlich in aller Deutlichkeit, warum es manchmal schwierig ist, zwischen verschiedenen Kulturen zu einem Dialog zu kommen: Die selben Begriffe haben völlig andere Bedeutungen, in den scheinbar selben Konzepten schwingen gegensätzliche Hintergrundinformationen mit. Es ist so, als gäbe es die Möglichkeit, sich mit Hilfe eines verschlüsselten Textes auszutauschen – nur besitzen beide Parteien einen ganz anderen Schlüssel dafür.

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Chinesische Tempel

Eine Reise nach China macht demütig, demütig gegenüber der Vielseitigkeit der Welt und der Kleinlichkeit scheinbar universeller Denkmuster, zumindest mich, die ich vorher noch nie in einem Land war, das nicht auch christlich geprägt ist. Ich frage mich, ob es für diese Demut einen besseren Ort gibt als chinesische Tempel, egal ob buddhistisch oder daoistisch, diese merkwürdigen Orte, in denen ich mir jedes einzelne Detail erklären lassen muss, in denen ich auf den ersten Blick kaum etwas, was ich bisher im Leben gelernt habe, anwenden kann.

Wir besuchen den Himmelstempel, eines der Wahrzeichen Pekings, und große Pagoden in Anyang, Luoyang und Kaifeng. Goldene Buddha-Figuren, Räucherstäbchen, bunte Hallen, die vielen fremden Bilder nehme ich auf wie im Rausch, wir laufen meistens nur schnell vorbei. Ich bin beeindruckt davon, wie einzelne Menschen mitten in den Massen die Ruhe finden, um zu knien und zu beten. Manchmal ertappe ich mich bei Vergleichen, stelle fest, dass einzelne Figuren aussehen wie Mariendarstellungen.

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Nachhaltiger im Kopf geblieben sind mir die Momente in den kleinen Pilgerstätten in der Natur. Gerade für den Daoismus besitzt die Natur eine hohe Bedeutung, die Menschen sollen, einfach gesagt, durch die Beobachtung der Welt das „Dao“, die allgemeine Wahrheit erkennen. Da sich das Dao in der Natur offenbart und für Spontaneität und Natürlichkeit steht, kann man die Verbindung mit ihm nicht durch Willenskraft und Lernen erreichen, sondern vielmehr auf mystisch-intuitive Weise, indem man sich dem Lauf der Welt anpasst und ihn sozusagen einfach passieren lässt. Die wichtigsten Werte für den Daoisten sind daher der Rückzug aus der Welt, der Gleichmut und das Nicht-Eingreifen, man strebt nach Ursprünglichkeit. So zog es viele Weise in die Natur, wo sie oft daran arbeiteten, Unsterblichkeit zu erlangen – angeblich ist die Alchemie, sind Versuche, über Dinge wie den „Stein der Weisen“ Unsterblichkeit zu erreichen, originär chinesisch.

Durch diese hohe Bedeutung der Natur gibt es viele Berge und Landschaften, die Daoisten heilig sind. Und an vielen Stellen finden sich kleine Pilgerstätten, nicht nur daoistische, auch buddhistische, wobei das, wie gesagt, ohnehin manchmal schwer zu unterscheiden ist.

Taihang-Tal und Yuntaishan

Im Taihang-Tal klettern wir über endlose Treppen und durch niedrige Felsvorsprünge, selbst ich habe hier aufgrund der rostigen, wackeligen Stufen das eine oder andere Stoßgebet abgesetzt. Zu allen Seiten ragen die mächtigen Felsformationen auf, aus Spalten brechen Wasserfälle hervor, die zu dieser Jahreszeit gefroren sind. Den großartigen Ausblick unter dem strahlend blauen Himmel haben wir ganz für uns. Noch einmal geht es über Stufen nach oben, dann unter einem hohen Felsen entlang, plötzlich stehen wir nicht nur in der Sonne, sondern auch auf einem kleinen Platz, in dem ein kleines Backsteingebäude mit Tempeldach sich in die Felswand schmiegt. Überall flattern rote Bänder im Wind, sie hängen von Ästen und wickeln sich um Baumstämme, in der Mitte des kleinen Platzes stecken abgebrannte Räucherstäbchen. Zwischen Bäume und Geländer hat jemand unter einen abgeknickten bunten Sonnenschirm eine Hängematte geknotet – ich könnte mir keinen besseren Ort dafür vorstellen. Wir setzen uns ganz allein zwischen all diese Heiligtümer und essen Kekse und Bananen in der Sonne.

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Zwei Tage später sind wir im Yuntaishan-Geopark. Ich bin ziemlich erschöpft, nach der Wanderung durchs Taihang-Tal und zum Guoliang-Dorf ist dies nun der dritte Tag zwischen gefühlten tausenden von Treppenstufen. Eine Schlucht haben wir heute schon durchquert und dann einen Abstecher zu einem zweiten Weg gemacht, langsam wird es auch bereits spät. Ich bin daher wenig begeistert, als wir mit dem Bus zur nächsten Station gekarrt werden, einem Berg, dessen Besteigung nur über eine endlos erscheinende Treppe möglich ist. Der Blick von unten ist ungleich frustrierend, Treppen über Treppen.

Schließlich schafft es Eva, uns trotz allgemeiner Lustlosigkeit und schmerzenden Füßen auf den Gipfel zu treiben. Zum Glück! Denn den Moment, als ich endlich oben angekommen war, werde ich nie vergessen: Fast wie aus dem Nichts taucht ein kleiner Platz auf, aus dessen Mitte knorrige, über und über mit gelben und roten Bändern behängte Bäume wachsen. Daneben eine Art Statue aus drei Metallherzen, die mit einer Art doppelten Liebesschlössern behangen sind. Die doppelten Herzen, bekommen wir erklärt, stehen für die Freundschaft und die Familie.

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Der Ausblick um uns herum ist phänomenal, daran kann auch die dichte Wolkendecke nichts ändern. Fast trägt das Grau noch zu der Stimmung bei, die ich hier in diesem Kloster ohne zu zögern als mystisch bezeichnen würde. Neben uns laufen schwarz gekleidete Mönche den Berg hinauf, von unten hört man die Klänge eines Gongs. Weiter oben liegt ein zweites Kloster, hier hängen statt der Bänder überall rote Täfelchen mit geäußerten Wünschen, wie wir sie bisher in buddhistischen Tempeln gesehen haben. Ist das nun ein zweiter daoistischer Tempel, oder liegt unten ein daoistischer und oben ein buddhistischer, und wenn ja – ach, egal. Hauptsache schön.

Der Besuch eines chinesischen Tempels lehrt einen nicht nur Demut, sondern auch Verständnis: Die Möglichkeit, sich spirituell und religiös zu fühlen, gibt es eigentlich überall. Und die Verbindung zu einem bestimmten Ort, zu einem bestimmten Gefühl, zur eigenen Spiritualität kann so viel tiefer gehen als die zu einer bestimmten Religion.

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In China war ich auf Einladung von China Tours. Stefan, Eva und ich haben dort die Provinz Henan besucht. Noch nie was von Henan gehört? Dann wird es definitiv höchste Zeit! Die wunderschöne Provinz wartet nicht nur mit tollen Tempeln und Naturerlebnissen auf, sondern gilt auch als Wiege der chinesischen Zivilisation. Eva stellt auf ihrem Blog Henan ein bisschen ausführlicher vor und beschreibt, warum die Provinz definitiv eine Reise wert ist. Und wer die gleichen Orte besuchen möchte wie ich, der kann sich auf der Website von China Tours umsehen, wo auch eine spannende Rundreise durch Henan angeboten wird.

17 Gedanken zu “China, deine Tempel”

  1. Während des Philosophiestudiums bin ich mal auf einen spannenden Artikel gestossen – hab aber keine Ahnung mehr wie der Autor hiess oder der Titel lautete. Darin ging es um die Grundlagen der buddhistischen Logik.

    In dem Text wurde eine Logik-Abhandlung aus dem 7. Jahrhundert eines buddhistischen Mönchs mit der Logiklehre von Aristoteles verglichen.

    Was dabei spannnend war. Die meisten grundlegenden Logikregeln waren identisch. Aber während bei Aristoteles der Satz des Ausgeschlossenen Dritten gilt, tut er dies in der traditionellen chinesischen und auch indischen Logik nicht.

    Es geht also um die Frage ob etwas gleichzeitig sich selbst und sein Gegenteil sein kann. Wir sagen nein. In der paradoxen Logik kann es das aber.

    Laut dem Autor würde dies erklären, wieso wir im Westen exklussive Religionen haben und im Osten inklussive. Beziehungsweise, wieso ein Christ nicht gleichzeitig Moslem sein kann, während ein Buddhist auch ein bisschen Daoist sein kann.

    1. Das ist wirklich spannend! Irgendwie stellen wir „Westler“ in der weltweiten Perspektive dabei ja auch Außenseiter dar. In Lateinamerika zB. ist es auch ganz normal, Christ zu sein und gleichzeitig an Berggötter und Schamanen zu glauben. Und bei den Aymara (indigenes Volk in Peru und Bolivien) gibt es sogar den Begriff der „trivalenten Logik“: Die Antwort auf eine Frage kann immer ja, nein oder sowohl ja als auch nein sein, es schließt sich also nichts gegenseitig aus.

  2. Unglaublich toller Bericht! Vielen vielen Dank dafür!!! 🙂
    China ist schon immer ein Traumziel für mich, wenn es nur nicht so weit weg liegen würde…
    Aber für mich ist klar, wenigstens einmal möchte ich chinesische Tempel besucht haben und einfach einen kleinen Einblick in diese Kultur bekommen und sie verstehen lernen!

    Glückwunsch zu dieser Möglichkeit, die du bekommen hast.
    Ich freue mich sehr für dich, dass du dorthin reisen durftest 🙂
    Liebe Grüße, Juliana

  3. Mit Religionen habe ich mich nie viel beschäftigt. Mich interessiert dabei höchstens, warum jemand an etwas glaubt und was es ihm persönlich bringt.
    Toleranz finde ich dabei aber immer sehr wichtig, sodass ich es echt schön finde, was du da über China erzählst.

    So viele Tempel hätte ich mir aber sicher nicht angesehen. Nach einem einzigen wäre meine Neugierde auf die andere Religion sicher ausreichend gestillt gewesen, auch wenn die Tempel an so wunderschönen Orten zu finden sind.

    Liebe Grüße

    1. Die kleinen Tempel bzw. Pilgerstätten lagen meist einfach auf unserem Weg irgendwo durch Naturparks 🙂 Aber was die größeren Sehenswürdigkeiten-Tempel angeht, ja, da hatte ich zum Ende der Reise hin auch ein bisschen genug – man bekommt bei so was irgendwann eine Art Sperre 😉

  4. Ich kann ja eigentlich nicht so viel mit China, oder Asien allgemein, anfangen, aber dein Bericht konnte mich trotzdem auf das Land und dessen Kultur neugierig machen. Tolle Bilder und sehr interessante Eindrücke! 🙂

  5. Du hast ganz tolle Worte gefunden und es wieder einmal geschafft, mich in deinen Text hineinzuziehen. Es ist wirklich faszinierend, wie anders gerade das Thema Religion in vielen asiatischen Ländern ist.

    Und deine Fotos… hach… ich könnte sie mir stundenlang anschauen.

    1. Vielen Dank 🙂 Ja, das ist wirklich faszinierend – ich möchte mich in Zukunft noch viel mehr mit Asien, Religion und Philosophie befassen, vielleicht auch im Studium.

  6. Sehr sehr spannend und schöne Überlegungen. Tatsächlich habe ich eine sehr ähnliche Erfahrung in Tanzania gemacht, meine erste Afrikareise in den 90er Jahren. Einerseits war mir Tanzania vermutlich nicht so fremd wie Dir China (und mir wäre es auch garantiert fremder), aber das natürliche Nebeneinander und auch Gleichzeitigkeit verschiedener Konzepte fand ich hier am spannendsten. Christentum schließt dort nicht die alten Religionen aus, Customary Law nicht die neuen Gesetze (ja, auch ich habe mich im Studium mit der indigenen Rechtsprechung beschäftigt ;). Ich habe das damals auch auf die Sprache bezogen: Es ist dort ganz selbstverständlich, dass nicht alle die gleiche Sprache sprechen, und Sprache formt ja die Konzepte im Kopf. Wenn ich Deinen Bericht lese frage ich mich allerdings, ob die Sprache nicht nur ein Schlüssel von vielen ist für dieses Geschenk an Möglichkeiten der – um mal ein mittlerweile fast überstrapaziertes Wort zu benutzen – Inklusion.
    Danke für diese Gedanken!
    LG /inka

    1. Vielen Dank für diesen Kommentar, das klingt wirklich mehr als spannend. Ich musste in China in dieser Hinsicht auch manchmal an Lateinamerika denken, wo es komplett normal ist, sich selbst als Christ zu sehen, sonntags in die Kirche zu gehen und dennoch an Berggötter und Schamanen zu glauben. Was dieses Ausschließliche angeht, scheinen wir „Westler“ eine ziemliche Ausnahme darzustellen, in weltweiter Perspektive 🙂
      Spannend, dass du dich auch mit indigenem Recht beschäftigt hast – mit dem Thema bin ich an meiner Uni sozusagen der absolute Exot 😉

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