Guoliang Anyang

Mein Wort 2016: Jetzt

„Nie wieder werde ich…“ – Wird so ein Satz in einer Sitcom ausgesprochen, weiß jeder Zuseher, was als nächstes passiert. Nie wieder so viel Alkohol trinken, nie wieder um zwei Uhr nachts eine ganze Pizza verdrücken, nie wieder am Tag vor der Deadline anfangen – und schon ist es doch wieder passiert. Solche Vorsätze beschließen wir aus dem schlechten Gewissen heraus und haben sie drei Wochen später vergessen. Zu endgültig sind sie gefasst, zu unflexibel sind sie für unser Leben, das sich ständig ändert. Egal, wie gut oder wie gut gemeint ein Vorsatz ist, der am 31.12. gefasst wird, das Leben funkt dazwischen und im Verlauf der nächsten 365 Tage kann viel passieren. Gerade an Neujahr beschließen wir außerdem so viel, von dem wir in dem Moment schon wissen, dass wir es niemals halten werden – der besonderen, nostalgischen Stimmung nach Weihnachten sei’s gedankt. Kein Wunder, dass Vorsätze einen schlechten Ruf haben.

Auf Reiseaufnahmen bin ich dann auf die „Ein-Wort-Methode“ gestoßen. Erst war ich kritisch, das klingt schon wieder so möchtegern-psychologisch. Doch die Idee hat mich überzeugt. Anstatt genaue Vorsätze zu fassen, überlegt man sich ein einziges Wort, das man sich für 2016 hinter die Ohren schreiben möchte. Metaphorisch gesprochen: Anstatt die Route vorzugeben, beschließt man lediglich, unter welcher Flagge man dieses Jahr segelt. Der Vorteil ist, dass ein bloßes Wort herrlich unkonkret und flexibel ist – (fast) egal, was passiert, das Wort und damit der Vorsatz kann beibehalten werden. So ein einzelnes Wort kann man je nach Situation neu interpretieren und muss es nicht sofort über Bord werfen, wenn es mal nicht mehr zu passen scheint. Außerdem verliert man sich bei nur einem Wort nicht zwischen einem Wirrwarr aus Vorsätzen, die man sich im Endeffekt gar nicht mehr merken kann. Ein einzelnes Wort behält man leicht in Erinnerung.

Als ich ins Grübeln kam, welches denn mein Wort 2016 sein könnte, ging es bei mir wieder von vorne los mit den Vorsätzen und allem drum herum. Mir kam so viel auf einmal in den Sinn und ich ärgerte mich fast schon darüber, dass mir so eine einfache Aufgabe so schwer fiel. Und zwischen all dem Denken und innerlichem Nörgeln stand es mir plötzlich deutlich vor Augen: Jetzt.

Mein Wort des Jahres: Jetzt

Um den Weg zu meinem Wort zu verstehen, muss man vielleicht meine momentane Situation kennen. Ich beende gerade ein Studium, das oft schön, aber auch oft ziemliche Zeitverschwendung war. Und nach Jahren, die spannend und schön waren, voll von tollen Möglichkeiten, großartigen Freundschaften und interessanten Aufgaben, hat das Schicksal beschlossen, mir die sinnlosesten und nervenaufreibendsten Module ins allerletzte Semester zu legen. So langsam ist meine Geduld irgendwie erschöpft – ich arbeite nur noch darauf hin, alles fertig zu bekommen, und das mit gerade so viel Energie wie nötig. „Muss nicht gut werden, nur fertig“, ist mein Motto. Und diese ganze Situation nervt mich selbst: Ich habe keine Lust mehr darauf, in der Zukunft zu leben, und ich habe keine Lust mehr darauf, mich dem, was ich tue, nur noch halbherzig zu widmen. Dazu kommen noch all die Zukunftspläne, die einen überrumpeln, wenn man seinen Studiumsabschluss macht, und bei denen mir manche Optionen, die für mich vor Kurzem noch selbstverständlich waren, inzwischen nicht mehr allzu attraktiv vorkommen.

„Wir leben jedes einzelne Jahr“, meinte eine Freundin von mir vor ein paar Tagen, oder zumindest habe ich es sinngemäß so in Erinnerung. Was heißt der Satz anderes als all die Klischee-Sprüche von „Pflücke den Tag“ bis hin zu „Make today count“? Trotzdem ist er mir so sehr im Gedächtnis geblieben. Wir leben jedes Jahr unseres Lebens, jedes Jahr unseres Lebens ist genau das: Ein Jahr unseres Lebens. Warum ein Jahr, oder auch nur ein halbes, mit Dingen verbringen, auf die man eigentlich keine Lust hat? Warum immer ein Jahr weiter denken, im Hinterkopf ein enttäuscht-hoffnungsvolles „Wenn ich dieses überstanden habe, dann geht es endlich los…“? Warum vorgefertigten Lebensläufen folgen, die gerade gar nicht ins eigene Leben passen? Warum sich in ein Korsett zwängen, das einem gar nicht passt – nur, weil es andere vielleicht erwarten?

Nicht, dass mich jemand falsch versteht – „jetzt“ als mein Wort 2016, das heißt nicht beim kleinsten Windhauch aufgeben, und es ist auch keine Ponyhof-Blümchen-Fantasie. Klar, manchmal gibt es Dinge, da muss man eben durch, und da kann man sich auch nur mit dem Blick auf die Zukunft motivieren. Aber wenn die nach einem halben Jahr immer noch doof sind, ist es an der Zeit, mal darüber nachzudenken, was es für Alternativen gibt. Meistens treffen wir doch unsere eigenen Entscheidungen und können etwas in unserem Leben verändern.

Zukunftswünsche Yuntaishan

Tafeln mit Zukunftswünschen am Gipfel des Yuntaishan, Henan, China

Unser Leben läuft in Phasen

Wenn ich in der Vergangenheit gefragt wurde, was ich nach dem Abschluss meines Studiums machen möchte, wurde ich immer ein wenig wütend. Nicht wegen der Frage an sich, eher wegen der unausweichlichen Konventionen, die dahinter lauern. Gerade ein Studium wie Politikwissenschaft besticht nach dem Abschluss nicht unbedingt durch den Inhalt. „Zu allem fähig, zu nichts zu gebrauchen“, sagt man über AbsolventInnen. Klingt blöd, heißt aber vor allem eines: Im Studium lernen wir, wissenschaftlich und im Idealfall kritisch zu denken. Und eine Sache von Anfang bis Ende durchzuziehen. Das ist es, was wir ins spätere Leben mitbringen. Dass wir Details über das politische System Großbritanniens, über die Theorien von Hobbes und Foucault, über die statistische Analyse von Wahlergebnissen vergessen, wird sozusagen fast von uns erwartet. (Nützt ja ohnehin relativ wenig außerhalb der Uni, von Klugscheißer-Kommentaren mal abgesehen.) Und diese Art zu denken, und die Fähigkeit, eine Sache durchzuziehen, das kann man in jedem Beruf gut gebrauchen.

Wenn nun die Frage kommt „Was machst du damit denn einmal?“, weiß ich nicht, wie ich sie beantworten soll. Wer weiß, worauf ich Lust haben werde? Wer weiß, was sich ergibt? Und was heißt damit – woher weiß ich, ob ich wirklich mal etwas im Bereich meines Studiums machen werde?! Weiter studieren oder doch lieber arbeiten – so etwas ist abhängig von Stellenangeboten, Zulassungsbeschränkungen und den Gefühlen und Vorlieben meines Zukunfts-Ichs. Unser Leben verläuft immer in Phasen, und ständig verändern sich unsere Pläne, Träume und Gefühle. Noch vor zwei Jahren schrieb ich den Text „Ich bleib dann mal hier“ – und meinte es so. Heute kann es mich mal wieder gar nicht schnell genug hinaus in die Welt verschlagen. Wer weiß, was ich in zwei Jahren über das Thema denken werde, wo ich 2018 gerne leben möchte?

Offen sein für das, was kommt

„Jetzt“ als mein Wort des Jahres, das heißt, diese Phasen zu akzeptieren. Zu verstehen, dass es für alles eine Zeit gibt und dass es nichts bringt, sich in Pläne hineinzupressen, die man vor Jahren gemacht hat. Flexibel und offen bleiben ist die Devise. Das Leben hält so viel bereit, wenn man es noch nicht komplett verplant hat – man muss eigentlich nur noch zugreifen. Dafür muss man natürlich auch erst einmal erkennen, was man möchte, jetzt gerade, in diesem Moment. Aufs eigene Herz hören, das ist die Devise beim Leben im Jetzt.

Wie mit den Neujahrsvorsätzen ist es auch mit den großen Plänen: Das Leben funkt dazwischen. Die große Liebe zum unpassendsten Moment, der Traumjob in einem ganz anderen Bereich als geplant, das Große, was aus Zufall und Pech entstehen kann. Gerade deshalb ist Pläneschmieden zwar schön, steht aber auch auf dünnem Eis. Aber wer weiß, vielleicht gibt es auch eine Zeit, eine Phase fürs Leben im Jetzt und eine fürs Pläneschmieden? 2016 möchte ich Ersteres versuchen.

Hast du auch ein „Wort des Jahres“ 2016?

Falls ja, kannst du noch bis zum 15. Februar deinen Artikel zum Thema in der Blogparade von Reiseaufnahmen einreichen!

15 Gedanken zu “Mein Wort 2016: Jetzt”

  1. Ich glaube, mein Wort ist „glücklich“.
    Denn genau das möchte ich sein und zwar egal, was das Leben mir für Steine in den Weg schmeißt. Bis jetzt klappt es ganz gut.
    Jetzt ist allerdings eine wirklich gute Idee… denn viele Dinge muss man einfach sofort probieren oder man vertagt sie ausversehen auf „nie“.
    Liebe Grüße

  2. Mal wieder ein wundervoller Post, der zum Nachdenken anregt. „Mein“ Wort 2016 ist mir recht schnell eigefallen: MACHEN. Ich hab das Gefühl, vor allem die zweite Hälfte 2015 hab ich zu sehr mit grübeln und planen verbracht. 2016 will ich endlich „einfach mehr machen“. 🙂

    1. Danke! 🙂 Das Wort hatte ich auch im Kopf – aber jetzt gefiel mir besser 😉 Ich wünsch dir viel Spaß und Erfolg beim „machen“!

  3. Hallo Ariane,

    herrlich, bei „möchtegern-psychologisch“ habe ich schon schmunzeln müssen und bei „keine Ponyhof-Blümchen-Fantasie“ hab ich mich ertappt gefühlt. Solchen gebe ich mich nämlich zu gerne hin, wenn ich gerade keine Lust auf das Jetzt habe, was hin und wieder ja mal vor kommt.

    Generell ist so ein Jetzt eine dolle Sache. Kürzlich las ich möchtegern-psychologisch, dass das Visualisieren von Dingen gar nicht das Beste sei, weil man dann ein bisschen vorgaukelt da ja schon dran zu sein und so nicht mehr alles dafür gibt. Klingt irgendwie nach Quatsch, aber ich fands auch spannend.

    Komm gut durchs Studium ins richtige Jetzt und genieße es und ganz lieben Dank fürs mitmachen bei meiner Blogparade!

    Liebe Grüße
    Tanja

  4. Das ist ein schönes Wort und ich kann deine Gedanken dahinter auch wirklich nachvollziehen.
    Ich habe dieses Jahr nicht wirklich Vorsätze gemacht; ich wollte jetzt vor allem nach längerer Krankheit endlich wieder gesund werden. Und den Rest dann auf mich zu kommen lassen. Das Beste draus machen quasi. 😉

    Ich kann mir vorstellen, dass das mit dem Studium, bei dem man nur noch halbherzig dabei ist, echt nervt… da ist es schon schwierig sich für die Aufgaben zu motivieren…

    1. Danke! 🙂 Dann wünsche ich dir gute Besserung und viel Spaß dieses Jahr beim Keine-Pläne-Machen. Ist doch auch mal schön, selbst wenn es aus doofen Umständen heraus passiert!

  5. Bin seit längerem mal wieder per Computer auf deinem Blog unterwegs und muss sagen: Geniales Layout! Besonders diese Leseleiste, dass die den Fortschritt anzeigt – finde ich super. Viele Grüße, Isabelle

  6. „Jetzt“ ist tatsächlich ein gutes Wort. Viele Leute leben ihr leben nicht, weil sie sich nicht trauen, nur an die Zukunft denken. Ehrliche Worte, die viel Wahres sprechen.

    Liebe Grüße
    Iza von Unsettled Destination

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